Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
Brechreiz ankämpfen und die Flasche absetzen. Er atmete tief ein, wischte sich Schweiß und Tränen aus den Augen und zwang sich dann, den restlichen Inhalt der Flasche in seine Kehle rinnen zu lassen. Blind schleuderte er die leere Flasche hinter sich. Auch wenn er gewartet hätte, den Schall der 80 Meter unter ihm zersplitternden Flasche hätte er nicht hören können, dazu waren die fallenden Wasser zu laut.
Mit den Händen auf den Felsdorn gestützt, rutschte er noch ein paar Zentimeter nach hinten. Leicht vorgebeugt saß er, den Kopf seitlich nach oben gedreht, als ob er auf eine Botschaft hoffen würde. Aber sie kam nicht, dafür wirbelten in seinem Kopf Gedankenfetzen immer schneller durcheinander. Wie in Lichtgeschwindigkeit raste sein Leben an ihm vorbei, Bilder, Töne, Düfte, alles unglaublich detailliert. Großvater in seinem Büro, seine Frau, als er die wenigen Male mit ihr geschlafen hatte, um die Kinder zu zeugen, die man von ihm erwartete, das Schulzimmer, die Mutter, die Hütte, Masha, der Onkel, die Kinder, Kinder, Kinder, Masha …
Vermutlich wäre Auenheim langsam seitlich von Zarathustras Finger gekippt, aber so weit kam es nicht. Die Spitze des Felsens brach geräuschlos ab, einfach so. Auenheim nahm auch nicht den plötzlichen Ruck wahr, nicht die Geschwindigkeit, nicht das zersprühte Wasser, durch das er stürzte, und auch nicht den Aufschlag. Sein wilder Gedankenwirbel brach einfach ab.
Der Beobachter
Enttäuschung über die sinnlos vergeudete Zeit, Enttäuschung über seine nicht erfüllten Erwartungen schlichen sich in Tonis Gedanken und auch, dass er mit diesem Unsinn aufhören musste.
Wie ein kleiner Bub an einem Schlüsselloch kam er sich vor. Beobachtete seit Stunden einen Mann in der Hoffnung, dass er es wieder mal mit Kindern trieb, und der nun nichts anderes tat, als sich volllaufen zu lassen. Toni beschloss, sich wieder sinnvollen Dingen zuzuwenden, in einer Stunde mussten die Kühe gemolken werden.
Auch der Pächter war aufgestanden und marschierte direkt von der Veranda aus in Richtung der Spalte, allerdings ohne den üblichen Rucksack mit Steinen, nur mit einer Flasche in der Hand. Toni folgte ihm, es war ohnehin in etwa seine Richtung. Zwischendurch machte der Pächter Pausen und trank aus der Flasche. Eine seiner Sandalen hatte er verloren, aber das schien ihn nicht zu stören, er streifte auch die zweite ab und ging einfach weiter. Kurz danach sah Toni bereits die ersten Blutspuren auf der Fährte des Städters, kein Wunder, woher sollte einem wie dem auch eine Hornhaut wachsen, dachte er. Wohin wollte der Pächter? An der Spalte war er einfach vorbeigetorkelt. Wenn er die Richtung beibehielt, kam er bestenfalls an den Wasserfall. Auch gut, was ging’s ihn an, er musste nach rechts zu seinem Motorrad, das stand am Ende des neuen Fuhrwegs bei den Gauchenwänden.
Der Pächter stapfte nun durch das Bachbett, vermutlich um seine wunden Füße zu kühlen. Das war nicht das Dümmste, außerdem war ein Bachbett ein guter und direkter Weg, und viel Wasser hatte der obere Scheuenbach in diesem Sommer nicht.
Toni hatte eigentlich keinen Grund, hinter dem Pächter herzulaufen, der sich vermutlich nur an den Wasserfall setzen wollte, um die Aussicht ins Tal zu genießen und dabei dem Rauschen des Wassers zu lauschen und zu saufen. Melkzeit, dachte Toni, er durfte die Mutter nicht schon wieder allein lassen – aber die Neugier …
Toni hatte schon oft am Wasserfall gesessen und Steine in die Schlucht geworfen. Vom Wasserfall selbst konnte man von oben nicht viel sehen. Nur wer sich auf den Felsdorn wagte, konnte das fallende Wasser sehen. Oder von den Seiten konnte man auch sehen, wie das Wasser über die Kante floss und an den Stufen, Absätzen und Zacken der Felswand immer wieder in feinste Partikel zerteilt wurde, an manchen Tagen sogar durch die Luft schwebte und das Sonnenlicht zu einem Regenbogen einfing. Toni liebte das Spiel des Wassers, das immer wieder andere Wege in die Tiefe suchte, um sich unten, in dem kleinen Gumpen am Fuße der Steilwand, wieder zu vereinen. Gut 80 Meter ging es runter. Der Vater war mit ihm oft an den Wasserfall und auf den Piesenkopf gegangen, damals, da war Toni zehn Jahre alt gewesen, aber er konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie er sich über die seltene Vertrautheit zum Vater gefreut hatte. Dann der Blick auf die Gottesackerwände, den Hohen Ifen, den Widderstein, direkt vor ihnen. Begeistert hatte ihn auch das Wissen des
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