Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
der Entdeckung. Er, der seriöse Verleger, treusorgende Vater und liebevolle Ehemann, ein pädophiler Mörder – er sah die Schlagzeilen deutlich vor sich.
Nach solchen Träumen raste Auenheim in die Berge zu seinem Rifugio und hinauf zu der Felsspalte. Jedes Mal warf er noch mehr Steine hinein. Vor einem halben Jahr hatte er sich sogar einen Suchhund ausgeliehen und war mit ihm zu der Spalte gewandert. Wie wild geworden hatte sich der Hund gebärdet und war nur mit Gewalt wegzubewegen. Auenheim kaufte danach kiloweise Kalk, Streusalz und Pfeffer, auch Rohöl, und streute, schüttete, goss das Zeug in die Spalte und warf wieder Steine, Erde und Holz darauf. Aber es nützte wenig, jedenfalls nicht in seinen Träumen. Dass er immer fahriger wurde, erklärte er mit geschäftlichen Problemen, was auch plausibel war, sein Verlag stand wirtschaftlich nicht gut da.
Nach den kurzen Schlafphasen, die ihm der Alkohol aufgezwungen hatte, bewirkten die ersten Schlucke Cognac sofortiges Wohlbefinden. Auenheim fühlte sich stark und hielt vor imaginärem Publikum ein ausgefeiltes Plädoyer seiner Unschuld als Opfer einer fatalen Veranlagung. Dann schob er sich eine Scheibe Dauerwurst zwischen die Zähne, und wenn der Höhenflug nachließ, begann der Kreislauf aufs Neue, bis ihm der Alkohol wieder ein Nickerchen aufzwang.
Noch bevor er bei seiner Ankunft die Hüttentür aufgeschlossen hatte, war er zu der Spalte hinübergerannt, um befriedigt festzustellen, dass sich nichts verändert hatte. Das war Grund genug gewesen, die erste Flasche zu öffnen. Die Ernüchterung trat am nächsten Nachmittag ein, als ihn das hartnäckige Klingeln seines Handys aufweckte.
»Seit Sie bei mir waren, suche ich nach einer Erklärung, woher Sie Monsieur Aberde kennen, obwohl ich Ihnen nie von ihm erzählt habe. Herr Auenheim, helfen Sie mir bitte, vielleicht gibt es ja eine einfache Erklärung dafür.« Walchers Stimme drang zwar an sein Ohr, erreichte aber nicht sein Bewusstsein. Er starrte auf die Berggipfel und sah sie nicht, auch die Wolken nicht, die wie aufgeblähte Bettbezüge an ihnen vorbeisegelten.
Günther Auenheim nahm die Welt nicht mehr wahr, er ließ das Handy einfach fallen, so als folge er einer anderen Macht. Auch dass sich sein Magen in heftigen Kontraktionen entleerte, registrierte er nicht. Tränen liefen ihm über das Gesicht und den Hals hinunter. Die Hand, mit der er den Flaschenhals umklammerte, zitterte wie bei einem tatterigen Greis.
Wie lange er so saß, eine Stunde vielleicht oder mehr, wusste er nicht. Mit Mühe quälte er sich aus dem Liegestuhl. Die noch fast volle Flasche Cognac in der Hand, schlurfte er in Richtung der Felsspalte.
Als er eine Sandale verlor, ließ er auch die zweite zurück und ging barfuß weiter. Langsam, leicht schwankend, blieb er in unregelmäßigen Abständen stehen und trank aus der Flasche.
Vorbei an der Begräbnisstätte, der Felsspalte, die er fast bis zum Rand aufgefüllt hatte. Dieses Mal sah er nicht hinein wie sonst immer, er drehte nicht einmal den Kopf zur Seite. Weit nach vorn ging sein Blick in den Himmel. Er spürte nicht, dass die scharfkantigen Felsen seine Fußsohlen aufgeritzt hatten und Blut aus vielen Schnitten tropfte. Auch die angenehme Kühlung des Wassers drang nicht in sein Bewusstsein, als er in den oberen Scheuenbach stieg und weiterging, als wäre es ein normaler Weg. Ein Schlafwandler am hellen Tag, wäre er nicht einige Male stehen geblieben, um aus der Flasche zu trinken.
Das warme Licht der späten Sonne beleuchtete die Felswände links und rechts und steigerte den Kontrast zu dem Tannengrün, das in dem freien Raum der Scharte sichtbar war, so als würde man vor einem riesigen Tor stehen und in eine andere Welt dahinter sehen können.
Wie ein Seiltänzer balancierte er die letzten Meter auf den Felsdorn zu, der wie ein Finger waagerecht in die Luft stach und das Wasser teilte, bevor es hinunterströmte.
Zarathustras Finger, so hatte der Großvater die Felsspitze getauft, weil sie in die Leere hineinragte, als wollte sie einen Weg weisen. Auenheim ging auf die Knie und rutschte rückwärts auf den Felsenfinger, bis er an dem Ende saß. Er war nicht schwindelfrei und hätte sich sonst niemals derart weit vor getraut. Seine Beine baumelten seitlich herunter, wie bei jemanden, der rittlings auf einem Baumstamm sitzt.
Bedächtig, als zelebrierte er ein Ritual, setzte er die Flasche an die Lippen und trank. Sein Magen reagierte, er musste gegen den
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