Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
süße Cola und eine neue Jeans und ein T-Shirt und neue Schuhe. Rodica hatte begriffen, aber ihre Kinderseele versteckte sich wie ein kleiner Vogel in dem schützenden Nest ihrer Erinnerungen.
Jeswita Drugajew
Bei St. Margrethen, kurz vor dem Grenzübergang nach Österreich, rief Walcher die Großeltern Armbruster an, bei denen er seine Tochter Irmi abgeliefert hatte. Statt der geplanten einen Stunde hatte sich das Gespräch in Zürich auf über drei Stunden ausgedehnt. Deshalb würde er erst gegen einundzwanzig Uhr bei den Armbrusters eintreffen können.
Die Großmutter versprach, es Irmi auszurichten, und Walcher hoffte, dass sie es auch tatsächlich tat. In der letzten Zeit wurde die gute Oma Armbruster ein wenig vergesslich.
Das Gespräch in Zürich war durch die Vermittlung seines Freundes Johannes zustande gekommen, mit dem er gelegentlich zusammenarbeitete und der über Walchers neue Recherche informiert war.
Jeswita Drugajew hatte mitten in Zürich auf dem Limmat Quai einen Verkehrspolizisten um Hilfe angefleht. Dass der Polizist bruchstückhaft verstand, was sie sagte – er lernte seit zwei Jahren Russisch an der Volkshochschule –, war ein glücklicher Zufall. Er nahm sie mit auf die Wache und meldete den Vorfall der Fremdenpolizei. Die Polizistin samt einer Dolmetscherin, die kurz darauf eintrafen und Drugajew befragten, brachten die Russin in das Frauenstift, ein ehemaliges Zisterzienserkloster, in dem der Psychosoziale Dienst ein Übergangswohnheim unterhielt. Für die Behandlung von Asylsuchenden und Migranten entsprach das nicht dem offiziell vorgeschriebenen Weg der Züricher Verwaltungsbürokratie, sondern war der Sympathie und dem Verständnis beider Beamtinnen für Jeswita Drugajew zuzuschreiben, nachdem diese ihnen die letzten Stationen ihres Lebens geschildert hatte. Eine Mitarbeiterin des Psychosozialen Dienstes wiederum war eine Bekannte von Johannes’ Freundin Marianne. So gelangte die Information zu Walcher, und auf demselben Weg retour wurde ihm das Gespräch mit der Russin ermöglicht.
Jeswita Drugajew und die Dolmetscherin, die auch für den Psychosozialen Dienst arbeitete, trafen sich mit Walcher am Zollikerberg, in dem winzigen Besprechungszimmer eines Wohnheims, an dem bestenfalls der Blick auf den Zürichsee eine Erwähnung wert war.
Auf einem wackeligen, altersschwachen Tisch standen drei verschrammte Tassen und eine verbeulte Thermoskanne mit Tee. Drei Waffeln lagen abgezählt auf einem Unterteller. Zucker gab es nicht und deshalb wohl auch keine Löffel. Der Tee erinnerte Walcher an seine Mandeloperation, den unangenehmsten Krankenhausaufenthalt während seiner Kindheit. Vermutlich sollten mit dem dünnen Früchtetee und der ärmlichen Zimmerausstattung Asylsuchende abgeschreckt werden. Aber Jeswita Drugajew passte in das Zimmer.
Sie trug Fundstücke aus der Kleidersammlung. Nur die edlen Schuhe standen in krassem Kontrast zu den billigen, ausgewaschenen Cordjeans und der violetten, mit Rüschen besetzten Bluse.
Jeswita Drugajew sprach leise und ruhig, als sie nach der Begrüßung fragte: »Also, was wollen Sie hören?«
Walcher versuchte ein Lächeln: »Alles, was Sie mir erzählen wollen … von Ihrer Heimat, Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Schule, mich interessiert alles, bis hin zu den Menschen, von denen Sie verschleppt wurden, von deren Organisation, alles, was Sie darüber wissen.«
Jeswita Drugajew nickte mehrmals. Sie wirkte auf Walcher klar und geradeheraus, wie eine Person, die wusste, was sie wollte. Wenn er die geschwollene Augenbraue, den gelblich-blauen Bluterguss auf dem Wangenknochen, die aufgeplatzte und schlecht verheilte Lippe der jungen Frau ignorierte, würde er sie als hübsch bezeichnen.
»Es war ein Tag vor meinem Geburtstag. Sechzehn Jahre war ich, da wurde ich von der Arbeitsvermittlung abgeholt, bei der ich mich gemeldet hatte. Ich wollte nach England, später nach Amerika. Das lief alles illegal, weil ich dort niemals eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hätte. Meine Eltern wussten Bescheid. Sie waren sehr traurig, aber verstanden, dass ich in den Westen wollte. Wir lebten außerhalb von Kolomna, das ist ein kleines Drecksnest nahe bei Moskau, zu fünft in drei Zimmern. Wir konnten uns zwar ernähren, mehr aber nicht. Ich träumte von schicken Kleidern, Schuhen und der großen Welt. Ja, und auf dem Weg dorthin geschah es dann … Schon in der ersten Nacht … Sie hielten mir einen Lappen auf den Mund, und an mehr kann ich mich nicht
Weitere Kostenlose Bücher