Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
weinen. Die Dolmetscherin streichelte Jeswitas Hand und weinte auch.
Walcher wurde plötzlich klar, dass ihm diese Recherche weit mehr unter die Haut gehen würde, als er befürchtet hatte. Als Mann schämte er sich dafür, was Männer dieser Frau angetan hatten, als Journalist forderte er von sich Sachlichkeit und Distanz, auch zwang er sich – gewissermaßen als Selbstschutz – zu Gefühllosigkeit. Aber das hatte bei ihm bisher noch nie funktioniert, und so fühlte er sich wie gelähmt und hilflos. Die Geräusche des normalen Lebens, die durch das offene Fenster hereinwehten, klangen unwirklich und irgendwie gedämpft. Auch die Zeit schien in diesem armseligen Zimmer einfach stehengeblieben zu sein. Noch immer streichelte die Dolmetscherin Jeswitas Hand und sprach leise auf sie ein. Es klang wie ein Gesang, und manchmal lächelte Jeswita und nickte. Walcher steckte sein Aufnahmegerät ein, zog aus seiner Hemdtasche eine Visitenkarte, kontrollierte, ob er die Rückseite nicht beschrieben hatte, und legte sie vor Jeswita auf den Tisch. Dann bedankte er sich und versprach, alles zu tun, damit wenigstens der eine oder andere dieser Menschenschänder aus dem Verkehr gezogen würde. Dabei kam er sich vor wie ein Politiker, der seine Worthülsen unters Volk streut, auch am Schluss fiel ihm nur eine Floskel ein: »Vielen Dank für Ihr Vertrauen.« Fehlte nur noch, dass er ihr einen Geldschein auf den Tisch legte. Er nahm die Visitenkarte noch einmal und schrieb Johannes’ Namen und Telefonnummer auf die Rückseite.
»Ich kenne mich mit den Schweizer Gesetzen nicht aus, aber vielleicht können meine Schweizer Freunde Ihnen weiterhelfen, wenn es Probleme geben sollte.«
Als er bereits an der Tür war, drehte er sich um, ging zurück und drückte Drugajews Schulter. Eine knappe Geste, warf er sich vor, als er auf der Heimfahrt noch einmal über sein Verhalten nachdachte. Aber sie konnte bereits ausreichen, um Distanz zu verlieren.
An diesem Abend war Walcher wortkarg wie selten, was Irmi zu der Frage veranlasste, ob er nur müde sei oder ob er etwas besonders Deprimierendes erlebt hätte. Irmi besaß feine Sensoren für Stimmungen, das konnte Walcher schon häufig feststellen, seit er sie vor einem Jahr bei sich aufgenommen hatte.
Nach dem tödlichen Verkehrsunfall ihrer Eltern, Irmi war zehn Jahre alt, war sie von ihrer Patin, Lisa Armbruster, adoptiert worden, und Walcher als Lisas Lebenspartner hatte damals die Adoptionspapiere mit unterschrieben. Drei Jahre später kam auch Lisa bei einem Verkehrsunfall um, jedenfalls wurde das als offizielle Todesursache angegeben, obwohl sie in Wirklichkeit ermordet worden war. Mit dem Einverständnis des Jugendamtes, der leiblichen Großeltern Brettschneider und von Lisas Eltern, den Armbrusters, übernahm Walcher die Rolle eines Pflegevaters. Bisher hatte er seine Entscheidung nicht in Frage gestellt und Irmi wohl auch nicht.
Nicht zuletzt dank Irmis offener und direkter Art, die sie vermutlich als Reaktion auf ihre Schicksalsschläge und die kontinuierlich stattfindende Aufarbeitung mit einer Therapeutin entwickelt hatte, kamen die beiden sehr gut miteinander aus. Walcher erzählte ihr deshalb ausführlich von dem Interview und auch, dass er mit Recherchen über diese Form der Sklaverei begonnen hatte.
»Verstehe«, sagte Irmi nur.
Beide schwiegen eine Weile. Dann nahm Irmi ein Heft vom Tisch und schlug es auf.
Sie zog die Stirn kraus. »Vielleicht kann dich meine Vier minus in Mathe etwas aufmuntern.«
Einkaufsliste
Walcher saß in der Küche, vor sich die alte Schiefertafel, auf der während der Woche die Einkaufsliste für den Großeinkauf am Samstag entstand. Er las Schnürsengeln, Esigurge, Joekurt, stutzte und überlegte, ob Irmi ihn damit nur foppen wollte oder er sich um ihr Deutsch kümmern sollte.
Am unteren Rand der Tafel hatte sie die Silhouette eines Hundes gezeichnet, wahrscheinlich weil das Hundefutter für Rolli, ihren Labrador, knapp wurde. Vor drei Monaten hatte Irmi, unterstützt von ihrem Quartett der Omas und Opas, den Welpen heimgebracht und damit die Bewohner des Hofes auf vier Lebewesen erhöht. Walcher, Irmi, Rolli und der stinkende Kater, den Walcher treffend Bärendreck getauft hatte. Während Rolli sich in kurzer Zeit zu einem stubenreinen und halbwegs folgsamen Familienmitglied entwickelte, blieb der Kater nämlich bei seiner für Katzen ungewöhnlichen Neigung, sich in möglichst frisch ausgebrachter Gülle zu wälzen. Nur der Hund
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