Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, aber er schwieg nur nachdenklich.
»Natürlich ist es deine eigene Entscheidung. Denke gründlich darüber nach, aber entscheide dich bald. Die Zeit drängt.«
Alduin lief zum Ufer hinunter und ein Stück flussaufwärts, bis er zu einer alten Weide kam, die ihre langen, starken Äste weit über den Fluss streckte. Er kletterte zu seinem Lieblingsplatz hinauf, einer breiten Astmulde, in der er bequem sitzen konnte, den Rücken gegen den rauen Stamm gelehnt, während er die Beine auf beiden Seiten eines mächtigen Asts herunterbaumeln ließ. Hier konnte er vor sich hin träumen. Träge und beruhigend floss das Wasser unter ihm hinweg und nahm seine Gedanken mit auf eine unbekannte Reise.
Sanforan: eine Stadt, hatte seine Mutter gesagt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es in einer Stadt aussah, er wusste nur, dass dort viele, viele Menschen lebten, die den verschiedenen Stämmen von Nymath angehörten. Und Elben. Gestern Abend hatte ihm seine Mutter von den Elben erzählt; sie hatte geschildert, welche Rolle sie in der Geschichte von Nymath gespielt hatten. Wie sie am Fluss Arnad aus Nebel einen magischen Vorhang gewoben hatten, der die Feinde fern hielt. Wie wurden die Feinde genannt? Uzoma, genau. Alduin konnte sich eigentlich nicht so recht vorstellen, dass es gefährliche Menschen gab. Alle, die er bisher kennen gelernt hatte, waren freundlich und hilfsbereit gewesen und manche hatten sich sogar ein wenig Zeit für den kleinen Jungen genommen, der allein mit seiner Mutter im Wald lebte. Auch fiel es ihm schwer, zu begreifen, warum Aranthias eigene Familie nicht damit einverstanden gewesen war, dass sie anders leben wollte, als es in ihrem Stamm üblich war, sodass sie sich gezwungen gesehen hatte ihr Elternhaus zu verlassen. Das war seltsam. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass die Welt irgendwo dort draußen, weitab von der Lichtung und dem Haus, bedrohlich und düster sein konnte. Alduin kam mit wilden Tieren zurecht und es machte ihm nichts aus, im Freien selbst von einem schweren Sturm überrascht zu werden. Er wusste stets, nach welchen warnenden Zeichen er ausschauen musste. Aber unfreundliche oder sogar gefährliche Menschen? Welche Zeichen musste man beachten, woran konnte man sie erkennen? Würde man auch vor ihnen gewarnt? Plötzlich kam es ihm sehr viel besser vor, einfach zu Hause zu bleiben und der Natur hier im Wald ihren Willen zu lassen. Doch wenn er ganz ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er keine Wahl hatte: Nur wenn er von hier wegging, würden er und Rihscha ihre Fähigkeiten entfalten und die Aufgaben bewältigen können, die sich in der Zukunft stellen mochten. In den vergangenen Tagen hatte ihm Aranthia sehr viel über Nymath erzählt; er konnte jetzt nicht mehr so tun, als gäbe es das Land nicht. Tief im Innern tat es ihm Leid, dass seine unbekümmerte Kindheit auf einen Schlag zu Ende ging, aber niemals hätte er auch nur einen Schritt zurückgemacht, wenn dies eine Trennung von Rihscha bedeuten würde. Er träumte davon, andere Jungen mit ihren Falken kennen zu lernen, ihre Geschichten zu hören und die Freude mit ihnen zu teilen. Außerdem war ihm klar, dass er nur in Sanforan die Lehrer finden würde, die ihm alles über die Falkenzucht beibringen konnten! Ganz allmählich spürte er in sich große Erwartungen: Er wusste, das war der Weg, dem er folgen musste. Hastig stieg er vom Baum herab und rannte nach Hause, um Aranthia seine Entscheidung mitzuteilen.
Am Abend stellten sie Rihschas Schale in einen tiefen Weidenkorb, der an einen Stab gebunden werden sollte, sodass Alduin ihn über der Schulter tragen konnte. Am nächsten Tag wollten sie sich auf den langen Weg nach Lemrik machen und packten reichlich Nahrungsmittel ein, obwohl sie hofften, das Dorf schon am späten Abend zu erreichen. In dieser Nacht fiel es Alduin schwer, einzuschlafen. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, die auf geregte Erwartung dessen, was vor ihnen lag, mischte sich mit dem traurigen Gefühl, dass das erste große Kapitel seines Lebens unwiderruflich zu Ende ging. Als der Hahn krähte und der Morgen heraufdämmerte, kam es ihm vor, als habe er fast gar nicht geschlafen. Er kroch mühsam aus seinem vertrauten Bett und fragte sich dabei, ob er wohl jemals wieder darin liegen würde. Während er in seine Kleider schlüpfte, blickte er sich ein letztes Mal in seiner gemütlichen kleinen Kammer um: die Kerben am Türrahmen, mit
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