Fallkraut
krumm. Arme, die zittern wie ein alter Hund. Noch ein Mal Applaus und danach das tägliche Kreuzworträtsel in der Zeitung und sonntags die Fenster ledern. Fi-ni-to. Kon-jetz. Schluss.
Die Gedärme bockten in meinem Leib, als ob ich ÂGulasch mit zu viel Paprika und Pfeffer gegessen hätte. In meinem Kopf erhob sich ein heiÃer Sturm, der alles Laub versengte. Nichts blieb übrig als ein paar kahle Stämme und Ãste, noch kahler als am kältesten Tag des Winters auf dem Fahrrad.
Ich lief zum Gästebett und zog den Geigenkasten darunter hervor. Ich klickte ihn auf, tippte mit den Fingerspitzen die Saiten an. Trotz meiner Därme, die sich Âerneut zusammenzogen, lächelte ich für den Bruchteil Âeiner Sekunde. Schnell klappte ich den Kasten wieder zu und nahm ihn hoch. Ich stellte ihn mitten in den Gang, als ob er nie woanders gestanden hätte, als ob es nie einen Zweifel gegeben hätte, dass er mit auf Reisen gehen würde.
Die Sonne auf meinen nackten Armen. Ohne Jacke nach drauÃen.
Und wenn ich zurückkehre, erwartet mich ein Tischtuch, auf dem alles anders angeordnet wird, alles noch einmal ganz neu, besser, schöner. Im Orchester werden sie ihren Ohren nicht trauen. Caravan-Kees, Johan und dieses Ekel Timo, der mir meinen Platz am Dirigentenpult abspenstig gemacht hat und keine Gelegenheit auslässt, mich zu korrigieren, wenn es mal nicht so gut läuft. Er sagt es so leise, dass die Tutti es nicht mitbekommen, aber so laut, dass der Dirigent es gerade noch hört. Ich werde Krüske und Timo zeigen, dass ich sie noch alle beisammenhabe, welche Höhen ich erreichen kann, was für einen Ton ich hervorbringen kann, hart und samtweich zugleich.
Ich muss mehr üben, zu Hause. Das habe ich ein bisschen schleifen lassen in letzter Zeit. Ich rümpfe nicht die Nase deswegen. Erst recht nicht mit diesem groÃen Schatz hier drin.
Ich ziehe den Geigenkasten etwas näher an meine Knie.
So ist das. Als kleines Mädchen war ich so verrückt nach Milch, dass Mama mich immer zu finden wusste, wenn ich verschwunden war, denn dann steckte ich beim Bauern Kramer und half ihm im Stall bei den Kühen und Milchkannen und schleckte von dem Rahm, der auf der Milch schwamm. Später kam die Geige hinzu, als Papa mir von einer seiner Geschäftsreisen nach Russland eine Dreiviertelvioline mitbrachte, die er bei einer Zigeunerfamilie erstanden hatte.
Nur bei der Geige überkommt mich wieder dieses Glücksgefühl, das ich hatte, wenn die Milch aus den rosa Zitzen von Bauer Kramers Kühen spritzte und sich auf dem Boden der sauber geschrubbten Eimer Perlmuttbläschen bildeten. Nicht nur wenn ich solo spiele, sondern auch wenn die Schweinetutti, die Hörner und das Fagott, die Oboen, Trompeten und das Schlagzeug, alle gemeinsam, sich aufmachen zu den Sternen. Denn so sehe ich das, lauter Trittleitern und Hocker und Tische und Bücherregale aufeinander gestapelt, an denen wir alle zusammen emporsteigen, höher und höher, und wenn es gut geht, bekommt niemand im Orchester Höhenangst und die Leiter gerät nicht aus dem Gleichgewicht, kein Schwingen von links nach rechts, keine Dissonanz, die die Harmonie zerstört. Nein, wenn alles gut ist, wartet da oben die Hand unseres Herrgotts. »Komm nur, es gibt mich«, sagt Er und schenkt ein Glas kühle Milch ein.
Dieselbe Empfindung hat auch Einstein gehabt, als er in Berlin den jungen Menuhin die Violinkonzerte von Bach und Brahms spielen hörte. Dass Gott existiert. Das bewies das wunderbare Spiel des zwölfjährigen Yehudi. Nur das mit der Milch, das war bei Einstein nicht so. Das ist bloà bei mir so.
Ich stelle den Geigenkasten neben mich auf die Bank. Es sind ja doch nur wenige Leute im Zug.
Liegst du gut in deinem Kasten? Ich werde für dich sorgen, es wird dir an nichts fehlen, und wenn der Staub und das ganze Elend der Jahre von dir abgeputzt sind, dann werden wir zusammen viel Freude haben. So etwas findet man in tausend Jahren nicht. Aber ich schon. Ich werde dich ganz neu erschaffen, im Hier und Heute des August 1970.
»Wenn die Uhr schlägt, bleibt dein Mund offen stehen.«
»Oh«, sage ich heiser und reibe mir den Schlaf aus dem Gesicht. Für einen Moment weià ich nicht, wo ich bin. In meinem Kopf ist alles verschwommen. Ich habe geträumt, dass ich spiele und nicht nur einigermaÃen gut, sondern wirklich sublim. So wie es war im Orchester in den
Weitere Kostenlose Bücher