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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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haben die Schienen weniger Kurven, und der Zug wackelt nicht so wie in Holland.«
    Ich schlucke den üblen Geschmack in meinem Mund herunter, und etwas, das sich anfühlt wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist, zwängt sich nach unten. Ich schlucke noch einmal. Mauern sausen auf Armlänge Entfernung vorbei, die kaputten Stücke mit Stahlnetzen abgedeckt gegen das Abbröckeln. Schatten von Signalmasten und Trafohäuschen schießen wie Fledermausflügel durch das Abteil. An manchen Stellen glitzert es gelbgrün, tropfendes Wasser oder Urin.
    Schwindlig wird mir davon. Und im Abteil stinkt es nach Kölnisch Wasser und gebratenem Hühnerfett.
    Guck einfach nicht raus.
    Zur Not schaue ich in die Zeitung.
    Ich blättere in der Tubantia , die ich heute Morgen vor der Abfahrt aus dem Briefkasten genommen und in meine Tasche gesteckt habe. »Hippies, flower children welcome.« Ich lecke an den Worten aus dem Zeitungs­artikel entlang. »Kralingen.« Liegt bestimmt irgendwo in Zeeland.
    Dutch Woodstock. Dr. John. Country Joe McDonald. Pink Floyd.
    Wer sind diese Leute, und warum haben sie so wenig an, wenn es regnet?
    Â»Wir leben für die Musik«, steht unter dem Foto eines Mädchens, das von Kopf bis Fuß mit Schlamm beschmiert ist. Ekelhaft, diese nackten Brüste.
    Nennen sie das Musik in der Tubantia ? Zeitung für Menschen, die keine Ahnung von Musik haben.
    Ich stopfe das Ding in den Abfallbehälter unter dem Fenster.
    Valentine isst.
    Mir ist schlecht.
    Guck einfach vor dich hin.
    Valentine trägt einen beigen Rock, dazu passende Strümpfe und einen zyklamrosa Rolli mit kurzen Ärmeln, die ihre Arme noch massiger wirken lassen, als sie schon sind. Auf ihrem Schoß liegt ein ausgebreitetes ­Geschirrtuch. Zu Hause hat sie zwei Hühner gebraten, und jetzt isst sie die kalten Keulen und Flügel aus einer Plastikdose. Die Knochen, Knöchelchen und Hautreste deponiert sie auf einem Stück Silberpapier neben sich. Die Knie aneinandergepresst. Die Fußgelenke nach außen gedreht, die Ellenbogen abgespreizt und die Finger nah an ihrem Mund, um nicht zu kleckern. Als ob sie ein junges Mädchen wäre und nicht eine aus dem Leim gegangene Witwe mit schwarzer Haartönung und drei Enkelkindern irgendwo weit weg an der belgischen Grenze. Vier Stückchen Huhn hat sie in der letzten halben Stunde verdrückt.
    Nun fischt sie einen glasierten Hühnerhals aus der Dose und fängt an, das Fleisch aus den Wirbeln zu ­saugen.
    Das ist Nummer fünf.
    Der Zug ruckelt. Das rhythmische Ta-tam, ta-tam wird unterbrochen, als die Lokomotive pfeift und wir in einen Tunnel einfahren. Schmatzende Geräusche erfüllen das Abteil. Das Rascheln einer Papierserviette, ein Rülpser. »Wohl bekomm’s!«, kichert Valentine. Das metal­lische Klicken einer Handtasche, die geöffnet wird, ist zu hören.
    Als wir aus dem Tunnel hinausfahren, schaue ich direkt in den weit geöffneten Mund einer gähnenden Valentine. Die Muschel ihres künstlichen Gebisses glänzt, das Gaumenzäpfchen hängt wie ein wurmstichiges Anhängsel hinten drin. Tine nimmt das Gebiss heraus, reinigt es mit einer Reisezahnbürste. »Hühnerfleisch hat Fasern.« Dann holt sie einen Zahnstocher hervor und beginnt, sich damit ins Zahnfleisch zu pieksen.
    Â»Ein Specht ist nichts dagegen«, sage ich. »Muss das so schnell sein?«
    Â»Ã„h-hä«, nickt Valentine.
    Â»Wozu braucht man eigentlich Zahnstocher, wenn man ein Gebiss hat?«
    Â»Ist gut fürs Zahnfleisch«, lispelt Valentine. Sie sticht so fest zu, dass ihr Zahnfleisch blutet. »Kräftigt das Fleisch und verhütet, dass der Kieferknochen schrumpft.«
    Sie leckt den Zahnstocher ab, wirft das Hölzchen in einem Bogen in den Abfallbehälter, schiebt das Gebiss wieder hinein und schenkt sich einen Becher verdünnten Zitronensaft ein. »Das löst das Fett im Magen auf und zieht die Wunden im Mund zusammen.« Valentine gurgelt und schluckt hinunter.
    Ich will die Stimmung nicht verderben.
    Â»Das sind keine Märchen.« Valentine nimmt ein paar Züge von dem Zitronensaft. Sie spült von der linken in die rechte Wange und schluckt. »Weißt du, dass man mit einer Zitronendiät drei Kilo in einer Woche verlieren kann? Außerdem ist es gut fürs Cholesterin.«
    Warum faselt Valentine immerzu über Diäten und magere Rezepte und wann man

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