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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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seinen Stock zwischen den Beinen, den weißen Schal lässig um den Hals gelegt, und schaute geradeaus, in eine Zukunft, die nur er zu kennen schien. Die Gegenwart ignorierte er geflissentlich.
    Die vier bewaffneten jungen Männer sahen sich unsicher an. Sie waren theoretisch in der Überzahl, hatten Gewehre, und die politischen Entwicklungen in St. Petersburg verliehen ihnen eine Macht, die keiner von ihnen vorher je besessen hatte. Und doch … Es schien, als ob Kronstein die Fäden zog, in dem kleinen Kosmos, den das Automobil darstellte, ein uneingeschränkter Herrscher auf einem beweglichen, aber zugleich vergänglichen Territorium.
    Der Daimler rollte zielstrebig in Richtung Hafen, und der Chauffeur vermied dabei absichtlich die breiten Chausseen. So war es eine holprige Fahrt durch schmale Gassen, über mangelhaft gepflasterte Plätze und an staunenden Passanten vorbei, die dem Automobil lange nachsahen.
    Kronstein schwieg, und seine Begleiter wagten es nicht, ihn aus seiner Gedankenwelt zu holen.
    Als der Wagen schließlich auf einen Kai einbog und neben einem der alten Lagerhäuser stehen blieb, konnte man das Meer riechen. Der Geruch von Salz und Tang lag in der Luft. Der Chauffeur stellte den Motor ab und wartete.
    Die vier bewaffneten jungen Männer, drei Bauernsöhne aus kleinen Ortschaften weiter im Osten und ein Student aus St. Petersburg, blickten sich neugierig um und schauten dann Kronstein erwartungsvoll an. Der schien endlich aus seiner Starre zu erwachen und lächelte in die Runde.
    »Meine Herren, es ist der Augenblick gekommen, sich zu entscheiden«, sagte er mit fester Stimme. »Tolstoi hat Krieg und Frieden geschrieben, ich schreibe jetzt Leben oder Tod .«
    Bei diesen Worten drehte sich der Chauffeur um und hielt eine schwere Steyr-M-1912-Pistole in der Hand, die er dem nächstsitzenden jungen Mann an die Schläfe drückte.
    »Diese Pistole hat acht Schuss im Magazin und eine Patrone im Lauf«, dozierte Kronstein noch immer lächelnd. »Igor kann damit umgehen, er trifft eine Spielkarte auf fünfundzwanzig Meter. Sie wären alle tot, bevor Sie überhaupt eines der Gewehre in Anschlag gebracht hätten. Doch bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, wir wollen die Steyr nicht benutzen. Ich möchte nur, dass Sie mir zuhören. Dann können Sie frei wählen.«
    Er machte eine kurze Pause, während er die Männer musterte, die ihn verwirrt ansahen. »Es ist mir bewusst, dass Sie zu meinem Schutz abgestellt wurden, und ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie dieser Aufgabe bisher so perfekt nachgekommen sind. Normalerweise würden sich hier und jetzt unsere Wege trennen. Wie Sie sich denken können, werde ich auf dem schnellsten Weg das Land verlassen. Ich habe dafür meine Vorkehrungen getroffen, schon vor einigen Jahren.«
    In Kronsteins Stimme schwang Befriedigung, aber auch ein wenig Wehmut mit. »Sie sind alle noch sehr jung, während ich am Ende meines Lebens stehe, und deshalb ersuche ich Sie, mir kurz zuzuhören. Unsere Familie war immer jüdisch, müssen Sie wissen, so lange wir denken können. Wir hatten nur wenige gute Zeiten in den letzten Jahrhunderten, dafür viele Katastrophen zu überstehen. Das hat uns geprägt, wie Tausende andere mosaische Familien in Russland ebenfalls. Die Geschichte hat uns gelehrt, vorsichtig und auf alles vorbereitet zu sein, egal, wer da oben gerade das Sagen hat.«
    Kronstein verstummte, drehte seinen Stock zwischen den Fingern und schaute den jungen Männern nachdenklich einem nach dem anderen in die Augen. Er sah Respekt, Bewunderung, Unsicherheit und Interesse, aber keinen Hass. Befriedigt gab er sich einen Ruck.
    »Lassen Sie mich für einen Moment Orakel spielen. Die Kämpfe in den nächsten Wochen und Monaten werden hart und verlustreich sein, auf beiden Seiten. Man muss kein Prophet sein, um das vorherzusehen. Sie sind nicht gerade das, was man erfahrene Kämpfer nennt, und Ihre Wahrscheinlichkeit zu überleben ist, nun, sagen wir, sehr überschaubar.«
    Der alte Mann lächelte wieder, und diesmal hatte er sie alle vier auf seiner Seite. »Ich kenne dieses Land besser als Sie. Ich bin darin groß geworden, bin seit siebzig Jahren ein Teil dieser russischen Seele und habe mehr Erfahrung mit der Macht, als Sie wahrscheinlich je haben werden.«
    Bei diesen Worten begann er den Griff seines Spazierstocks aufzuschrauben, unter den erstaunten Blicken der vier jungen Männer, die ihm atemlos zusahen. Dann streckte er die flache Hand aus und brachte den

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