Falsch
gewandt, befahl er: »Werft die drei Leichen ins Wasser und eure Gewehre gleich hinterher. Wohin auch immer wir fahren, wir werden sie nicht so schnell wieder brauchen.«
Dabei sah er Kronstein fragend an, und der nickte lächelnd. »Pistolen sind unauffälliger, ich gebe Ihnen recht. Kann ich also auf Sie zählen, Herr …?«
»Pjotr Solowjov, Exzellenz, und ja, ich denke, Sie können auf uns alle zählen. Wir kommen mit Ihnen, wo immer Sie auch hinreisen. Wenn es sein muss, in die Hölle.«
»Das freut mich«, antwortete Kronstein einfach. »Verteilen Sie bitte die vier Diamanten, und dann lassen Sie uns verschwinden. Wir haben keine Minute zu verlieren. Hier bricht gerade eine Welt zusammen, und wir sollten weit weg sein, wenn sie untergeht.«
São Gabriel da Cachoeira,
Rio Negro/Brasilien
Das Babylon-Café war eine der letzten Spelunken alten Zuschnitts zwischen Valparaiso und Beirut, die alle Fährnisse der Zeit überlebt hatten. In den zwanziger Jahren, im kulturellen Überschwang nach dem Vorbild der Oper in Manaus erbaut und für viele Jahrzehnte ein heruntergekommenes, verstaubtes Theater, war das Babylon nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise in eine riesige Bar umgewandelt worden – erst einer der beiden Pausenräume, dann das gesamte Parkett und schließlich das komplette Haus.
Das »Baby«, wie es die Eingeweihten und Stammgäste nannten, war zu einem schäbigen Etablissement verkommen, das sich an seine besten Zeiten nicht mehr erinnern konnte. Als Theater war es zu groß für São Gabriel gewesen, als Bar war es das nach wie vor. Das Babylon litt unter dem Einwohnerschwund entlang des Rio Negro. Es erinnerte viele an einen halbtoten, hungrigen Kraken, der bereits in einer Art Wachkoma lag und dessen Arme sich trotzdem noch bewegten und mit eisernem Griff stets neue Opfer an die längste Bar Südamerikas holten.
Nach dem Ende des Kautschukbooms waren nicht nur aus Manaus, sondern auch aus São Gabriel die Glücksritter wieder fortgezogen. Alle, die reich werden wollten, folgten jenen, die bereits reich geworden waren. Manche schnell und fluchtartig, andere langsamer, in Etappen. Sie zogen zwar weiter, kamen jedoch in regelmäßigen Abständen immer wieder zurück. Niederlagen waren auch mitten in der Wildnis nur schwer zu verwinden, und zerstörte Illusionen verlangten nach einem Tribut aus billigem Fusel. Der floss im Haus am Rio Negro in Strömen.
Theater wurde im Babylon schon lange nicht mehr gespielt. Die Logen waren verwaist, und die roten Samttapeten verrotteten in der feuchten Luft des Amazonasgebiets. Manche hingen wie lose Hautfetzen von der Wand, andere lösten sich einfach auf, verschwanden auf geheimnisvolle Weise, zersetzten sich zu Staub. Die meisten der einst komfortabel gepolsterten Sitze waren vor langer Zeit an Tischen aufgereiht worden, andere auf einem riesigen Haufen im Keller und damit auf dem Altar des Vergessens gelandet, gemeinsam mit alten Programmheften oder Plakaten, zerfetzten Kostümen und zerbrochenen Schallplatten. Ein Berg der Erinnerungen an glanzvolle Tage.
In den ehemaligen Garderoben der Sänger und Schauspieler hatten sich Huren eingemietet, die für wenige Real ihre Dienste auf den durchgelegenen Matratzen feilboten. Meist standen sie, nur leicht bekleidet, in den schmalen Gängen herum, warteten auf Kundschaft und nippten an Cocktails.
Hoch oben auf dem Rang hatte ein Tätowierer vor wenigen Monaten sein »Atelier«, wie er es nannte, aufgeschlagen. Seit einigen Wochen schlief er auch hier, ausgestreckt auf einigen plüschigen Stühlen, von denen er die Lehne abmontiert und dann die Sitzflächen zusammengeschraubt hatte.
Seltsamerweise hatten alle Besitzer des Babylon die Bühne unangetastet gelassen. War es eine Art letzter Reverenz vor der Vergangenheit? Man munkelte, dass die Kulissen von 1943, dem Jahr der letzten Aufführung, noch immer hoch unter der Decke hingen. Gesehen hatte sie niemand. Nur ein völlig Verrückter hätte es gewagt, den komplizierten Mechanismus der Laufrollen und Hebewerke in Gang zu setzen und dabei Gefahr zu laufen, von dem schweren, rostigen Gestänge erschlagen zu werden.
Also blieb auf der Bühne alles so, wie es war.
Manchmal, wenn das Akkordeon spielte, schoben sich Tänzer zu Tango-Rhythmen über die Bretter, die hier nichts mehr bedeuteten. Alte Paare, den Scheitel akkurat gezogen, mit Ernst und Hingabe bei der Sache, versanken mit der Musik in Erinnerungen an jene Zeiten, die immer rosiger wurden, je länger der
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