Falsch
Tanz dauerte.
Wo sich einst der Orchestergraben erstreckte, über die gesamte Breite des Parketts, stand nun die Bar. Riesig, überdimensioniert und respekteinflößend, war es ein Ungetüm aus Holz, das sich wie eine satte Schlange durch den Raum wand. Darüber, stets in Zigarettenrauch gehüllt, hingen die Lampen mit den grünen Glasschirmen an ihren meterlangen Kabeln und standen nie still. Sie schwangen stets leicht im Luftzug, und die gelben Lichtinseln wanderten in ihrem ganz eigenen Rhythmus über die zerkratzte Platte aus schwarzem Marmor, der angeblich aus Italien mit dem Schiff bis zur Amazonas-Mündung und dann den Rio Negro hinauf transportiert worden war.
Geschichten … dieses Haus war voll davon. Sie hatten sich in allen Ecken und Nischen eingenistet, wie Schwalben, die nie mehr südwärts fliegen wollten. Nicht alle Erzählungen waren wahr. Vielleicht waren es die wenigsten, sah man erst einmal genauer hin und hörte aufmerksamer zu. Andererseits jedoch … wer weiß? Die Legende jedenfalls, dass man trotz eines Biers in der Hand durstig wurde, wenn man bis ans andere Ende der Bar unterwegs war und dazwischen ein wenig aufgehalten wurde, die konnte jeder leicht selbst überprüfen.
Ins Babylon ging man nicht, es zog einen an. Es war wie ein Strudel, wie ein Magnet an einem Ort, der sonst nichts zu bieten hatte. Hemingway war einmal hier gewesen, so munkelte man, habe alle unter den Tisch getrunken und dann die Zeche geprellt. Evita Peron habe eines Abends plötzlich auf der Bühne gestanden und eine flammende Rede gehalten, eine Lanze fürs Frauenwahlrecht gebrochen.
Und Caruso erst …
Je später es wurde, desto abenteuerlicher wurden die Geschichten, die im Babylon allabendlich kolportiert wurden. Was tatsächlich stimmte, das blieb für immer das Geheimnis der ätherischen Jugendstil-Engel auf der Empore, die mit unbewegter Miene seit fast einem Jahrhundert über die Besucher wachten.
John Finch saß an seinem Stammplatz, ganz am linken Ende der Bar, und drehte das Glas mit dem achtzehn Jahre alten Bruichladdich-Whisky in seinen Händen wie eine Kristallkugel. Es war spät, oder besser gesagt früh, und das Babylon hatte sich geleert bis auf ein paar Unverdrossene, die nicht mehr nach Hause gehen wollten oder konnten.
Auf der dunklen Bühne, von einem einzelnen Scheinwerfer in ein mystisches Zwielicht getaucht, klimperte ein Mann im abgetragenen Anzug leise auf einer akustischen Gitarre.
»Es ist selten, dass du so lange hier bleibst«, meinte Roberto, der Barkeeper, mit müden Augen. »Findest du nicht, dass es langsam an der Zeit wäre, die Decke übers Ohr zu ziehen?«
Finch antwortete nicht und schien zu versuchen, die goldgelbe Flüssigkeit im Glas zu hypnotisieren. Schließlich zog er die Schultern hoch und nickte langsam. »Wahrscheinlich hast du recht, ich sollte heimgehen. Ein neuer Tag, ein neues Spiel, vielleicht ein neues Glück. Obwohl ich daran zweifle.«
»Ich verstehe sowieso nicht, was du noch hier in São Gabriel machst«, meinte Roberto, während er mit seinem fleckigen Tuch das nächste Glas in Angriff nahm und verbissen so lange daran rieb, bis es gleichmäßig verschmiert war. »Dieses Kaff ist der Arsch der Welt, von hier aus geht es nirgendwo mehr hin. Dein Flugzeug steht im Hangar herum und wird in diesem Klima auch nicht besser. Wann hast du deinen letzten Auftrag gehabt? Vor acht Monaten?«
»Gestern«, gab Finch düster zurück und schaute auf seine Breitling, »genauer gesagt vor acht Stunden.«
Roberto sah den alten Flieger überrascht an. »Und?«
»Es will jemand meine alte Lady buchen und mich gleich dazu, das Geld spielt keine Rolle, ein Ende ist nicht abzusehen. Und doch …« Finch lehrte das Glas in einem Zug und stellte es dann hart auf die Bar. »Da ist zu viel, das mir nicht gefällt«, setzte er hinzu und rutschte vom Barhocker. »Zu viel Aufwand für einen alten Flieger wie mich, wenn du weißt, was ich meine.«
Roberto schüttelte energisch den Kopf und polierte weiter.
Finch seufzte. »Na gut, ich sehe, du verstehst mich also nicht. Wenn du einen Piloten suchst, dann geht es meist darum, von A nach B zu kommen, schnell und sicher. Wenn es etwas Illegales ist, dann legst du vielleicht noch auf die Diskretion der Besatzung wert und akzeptierst einen höheren Preis. Aber warum sollte jemand von sich aus so viel Geld auf den Tisch legen, dass er das Flugzeug gleich mit dem Hangar kaufen könnte? Dazu eine komplette Crew, gute Mechaniker, eine
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