Falsche Nähe
fesselt ihre Aufmerksamkeit heute nur am Rande, denn sie ist mit den Gedanken bereits bei den Herausforderungen der beginnenden Schulwoche.
»Hauptsache warm«, sagt sie.
Der Tag verläuft anstrengend, ein Montag, der seinem miserablen Ruf gerecht wird. Das fängt schon beim Schulweg an. Seit dem Umzug an die Elbe ist ihr die Strecke zu weit, um das Rad zu nehmen, also ist sie auf die Hochbahn angewiesen. An den Landungsbrücken wollen so viele Touristen zusteigen, dass die Abfahrt sich gut und gern zehn Minuten verzögert, weil die Türen nicht schließen, immer blockiert irgendein Rucksack oder eine Windjacke die Lichtschranke.
Noa kommt zu spät und erhält einen Eintrag im Klassenbuch. Da sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, muss sie den ganzen Vormittag auf der Hut sein. Bloß nicht auffallen. In Englisch wird überraschend ein Vokabeltest geschrieben. Und zu allem Überfluss scheint jeder der Meinung zu sein, sie sei jetzt mit Daniel zusammen. Leider auch Daniel. Dabei war die Sache mit dem Kuss am vergangenen Freitag bloß ein Ausrutscher, der guten Stimmung nach ihrem Sieg beim Volleyball geschuldet, was sie ihm auch mehr als deutlich gemacht hat. Zumindest glaubte sie das.
Noa ist längst nicht bereit, sich neu zu verlieben. Die letzte Trennung ist ihr viel zu sehr an die Nieren gegangen. Besonders pikant: Ihre beste Freundin Miriam steht auf Daniel, und das schon ziemlich lange. Nun nimmt sie ihr sowohl den Kuss übel, der eigentlich bloß ein Schmatzer war, als auch ihre vermeintliche Hinhaltetaktik.
»Wieso kannst du ihm nicht einfach klipp und klar sagen, dass du nichts von ihm willst?«, fragt Miriam.
Große Pause. Sie haben sich hinter die Turnhalle zurückgezogen, wo es ruhig ist, und teilen Miriams Proviant auf. Wie immer hat ihre Mutter es gut gemeint: Käsebrötchen, Paprikastreifen, Gurkenscheiben, Müsliriegel.
»Hab ich doch schon. Ich wollte ihm bloß eine Chance geben, sein Gesicht zu wahren, deshalb habe ich es nett formuliert. Als ob es nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hätte, sondern mit mir. Damit, dass meine Beziehung mit Jannis in die Brüche gegangen ist. Und da ist ja auch was dran. Immerhin waren wir mehr als ein Jahr zusammen.«
»Sag ich doch, du hältst ihn hin«, erwidert Miriam missmutig. »Also Daniel, meine ich. Jetzt denkt er doch erst recht, wenn er am Ball bleibt und dir als guter Freund über deinen Liebeskummer hinweghilft, kann er am Ende den Jackpot abgreifen.«
»Und der Jackpot bin ich, oder was?«
»Klar. Wer sonst? Kuck dich doch mal an. Du siehst aus wie das blühende Leben, frisch gebräunt vom Wochenendtrip nach Ibiza zurück, während Normalsterbliche sich hier bei acht Grad und Regen im Mercado die Zeit vertreiben durften.«
»Es war Mallorca, nicht Ibiza. Und das da ist keine Bräune, sondern ein Sonnenbrand.« Noa hält der Freundin beide Unterarme hin, um sie begutachten zu lassen. »Mein Rücken sieht noch schlimmer aus.«
»Du Ärmste, du bist zu bemitleiden.« Affektiert pustet sich Miriam die Ponyfransen aus der Stirn. »Echt, Noa, du weißt gar nicht, wie gut du es hast.«
»Inwiefern?«
»Du hast doch das große Los gezogen. Allein schon, dass du so eine berühmte Schwester hast, sichert dir doch hier an der Schule einen geradezu legendären Status. Du kannst machen, was du willst, alle finden dich cool. Und du hast keine Eltern, die dich ständig bevormunden, dir sagen, wann du abends zu Hause zu sein hast, wen du über Nacht mitbringen darfst und wen nicht.«
Noa macht ein verächtliches Geräusch. »Ich hatte Eltern, und sie sind gestorben, Miriam, verstehst du? Tot! Sie hatten einen Autounfall und ich habe sie nie richtig kennengelernt.«
»Weiß ich doch alles.«
»Dann kapier ich nicht, warum du mit der Bezeichnung Glück nicht ein bisschen respektvoller umgehst. Du hast es gerade nötig, dich zu bemitleiden. Du mit deiner heilen Bilderbuch-Familie.« Noa greift sich Miriams Brotdose und fuchtelt damit wie zum Beweis vor ihrem Gesicht herum. »Nicht mal deine Brötchen musst du dir selbst schmieren. Meine Schwester und ich müssen sie uns selbst verdienen.«
Jetzt sind sie beide richtig in Fahrt.
»Oh bitte, Noa, mach jetzt bitte nicht auf Not leidendes Waisenkind«, sagt Miriam, »Audrey bringt die Kohle nach Hause, nicht du. Und solange ich dich kenne, hast du deine Eltern nie vermisst.«
»Meinst du? Woher willst du wissen, wie es ist, in meiner Haut zu stecken? Solange ich dich kenne, hattest du nie Ambitionen mit
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