Falsche Nähe
mir zu tauschen. Jedenfalls früher nicht. Erst seit Audreys Bücher erfolgreich sind, kommt es dir plötzlich so vor, als würdest du in deinem eigenen kleinen Leben was verpassen. Und ich sag dir auch warum: Weil du neidisch bist. So einfach ist das. Genau wie die meisten anderen, die mich neuerdings ach so supercool finden. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass mir das irgendwie nützt? Guck mich an, ich bin’s bloß. Deine beste Freundin. Ich habe mir noch nicht die Brüste machen lassen, mein Klamotten-Stil ist immer noch genauso unausgegoren, und meine Versuche, mir selbst einen Bauernzopf zu flechten, sind immer noch genauso dilettantisch wie vor meiner Karriere als Schwester einer Bestsellerautorin. Ich wünschte immer noch, ich wäre nicht brünett, sondern so naturblond wie du, und das Einzige, was mir an mir so richtig gefällt, ist das Grün in meinen Augen. Also tu nicht so, als wäre ich plötzlich Miss Hafencity, die Unerreichbare, die High-School-Queen aus irgend so einem hohlen Teenie-Film, denn das bin ich nicht. Genauso wenig wie du.«
Der Gong zur nächsten Stunde, parteilos wie der Abpfiff eines Schiedsrichters, erspart Miriam eine Erwiderung. Sie klappt die Brotdose zu und verstaut sie in ihrer Umhängetasche aus recycelter LKW -Plane. Schweigend, aber im Gleichschritt umrunden sie den altehrwürdigen Backsteinbau, einst ein Lyzeum, eine reine Mädchenschule also, was Noa, angesichts der lästigen Daniel-Problematik gerade ziemlich paradiesisch vorkommt.
Als die Flügeltüren des Portals sie verschlucken, sagt Miriam: »Dein Zopf ist schon okay so.«
Sie haben noch mal die Kurve gekriegt. Noa atmet auf, doch für den Rest des Schultags bleibt sie aufgebracht und absolut unempfänglich für sämtliche Ausführungen der Lehrer vorn an der Tafel. Miriam ist ihre älteste Freundin in der Stadt, sie hat dafür gesorgt, dass Noa als Neue in der Schule einen guten Start hatte. Es ergab sich wie von selbst: Im Karoviertel waren sie Nachbarinnen, wohnten Tür an Tür im selben Haus, logisch verbrachten sie mehr Zeit miteinander als jetzt.
Noa versucht sich vorzustellen, was die veränderte Situation für Miriam bedeutet. Ein wichtiger Faktor ist das Geld. Wie ihre Schwester sind auch Miriams Eltern Freiberufler, in den allermeisten Fällen ein ständiger Kampf, egal ob man den Leuten Bücher verkaufen will oder Reisereportagen oder Yogakurse. Ständig geht es darum, sich im Gespräch zu halten, lukrative Aufträge zu ergattern, um die laufenden Kosten zu decken, und im Idealfall noch etwas für schlechtere Zeiten beiseitezulegen. Audreys unerwarteter Aufstieg in die Welt der Großverdiener war ein Erdbeben, das eine Kluft zwischen ihnen entstehen ließ. Auf einen Schlag haben sie nicht mehr dieselben Probleme zu bewältigen. Sich seine materiellen Wünsche so ungeniert und sorglos erfüllen zu können, macht einen offenbar in den Augen der anderen automatisch verdächtig. Verdächtig, von heute auf morgen ein schlechter, oberflächlicher, arroganter Mensch geworden zu sein, weil Geld ja bekanntlich den Charakter verdirbt.
Womit Faktor zwei ins Spiel käme: Ruhm. Da Audrey jetzt mehr oder weniger berühmt ist – nicht so berühmt wie ein Hollywoodstar oder Michael Jackson posthum, dennoch nahezu ein Star für die Hamburger Literaturszene –, scheinen viele ihrer alten Bekannten sie beide nicht nur für Schnösel, sondern regelrecht für Freaks zu halten. Wie neulich, als sie die Mutter einer anderen Schulfreundin im Supermarkt trafen, die ihnen eine überaus seltsame Begrüßung an den Kopf warf: »Das hätte ich ja nicht gedacht, dass ihr noch so ganz normal einkauft. Toll finde ich das, ganz toll.«
Hallo – geht’s noch? Audrey und sie haben sich stumm angeguckt und der Frau unisono einen Vogel gezeigt, sobald sie ihnen den Rücken zuwandte. Es ist schwer, sich selbst treu zu bleiben, wenn alle um einen herum große Veränderungen erwarten. Die daraufhin tatsächlich eintreten, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Noa schwirrt der Kopf. Ohne irgendetwas um sich herum bewusst wahrzunehmen, hat sie Bio und eine Doppelstunde Deutsch ebenso hinter sich gebracht wie die Heimfahrt mit der Hochbahn. Mittlerweile befindet sie sich wieder in der Hafencity, wo sie mit traumwandlerischer Sicherheit auf die nächste Eisdiele zusteuert. Vanille, Schoko, Stracciatella. Zumindest auf diesem Gebiet ist sie definitiv noch die Alte.
Die Magellanterrassen sind so überfüllt, dass sie weder auf den
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