Falsche Nähe
Holzbänken noch auf den Rasenflächen einen Platz bekommt, also schlendert sie an der Wasserkante entlang. Kein Wunder, bei dem Wetter will jeder noch einen Nachschlag Sommerwärme abgreifen, die Hamburg-Touristen mit ihren Stadtplänen und Reiseführern, die Angestellten aus den gläsernen Bürokomplexen, Mütter und Väter mit kleinen Kindern. Am Kreuzfahrtterminal liegt ein Schiff der Aida-Flotte vor Anker, leicht zu erkennen an der albernen Bugbemalung: ein lippenstiftroter Frauenmund. Es erinnert sie an Palma, die ganze Dekadenz dieses bizarren Wochenendtrips. Sie wünschte, Miri wäre auch dort gewesen.
»Pass auf!«
Noa schreckt auf, als ein herrenloses Skateboard direkt vor ihren Füßen vorbeirattert und auf das Hafenbecken zuschießt. Buchstäblich in letzter Sekunde bringt sein Besitzer es mit einem beherzten Hechtsprung zum Stehen, keine zehn Zentimeter von der Kante entfernt, allerdings landet er dabei unsanft auf dem Pflaster und hält sich das Knie. Schutzausrüstung Fehlanzeige, typisch. Ego vor Einsicht.
»Mann. Das war knapp«, sagt Noa.
Wie ein umgedrehter Käfer auf dem Boden liegend fährt er sie an: »Wieso hast du es nicht gestoppt?«
»Ich?«
»Ja, du! Wer sonst? Ich hab doch extra noch gerufen.«
Er steht auf und klopft sich den Wüstenstaub von der Hose. Ein typischer Skater: dreiviertellange Cargo-Hosen, graues Shirt von Billabong, rausgewachsene Haare – und dazu nun auch ein angemessen blutiges Knie. Er wird es überleben. Die hellroten Locken gefallen Noa. Aber das ist auch schon alles. Sein Benehmen lässt schwer zu wünschen übrig.
»Das kann doch nicht so schwer sein, mal eben kurz den Fuß daraufzusetzen und das Teil zu stoppen«, pöbelt er weiter.
»Es kann ja wohl auch nicht so schwer sein, diese lächerliche Rollstuhlrampe da runterzukullern, ohne dass dein Board sich selbstständig macht.«
Das saß. Noa sieht es an seinem Gesicht.
»Du musst es ja wissen«, sagt er lahm.
»Eben. Hier zu skaten ist echt keine große Kunst. Da hab ich schon Fünfjährige gesehen, die es besser draufhatten.«
»Mach’s vor.« Er kickt das Board mit dem Fuß in ihre Richtung, worauf Noa, die noch nie auf so einem Ding gestanden hat, unwillkürlich die Muskeln anspannt. Soll sie es wagen? Sie knabbert an den Überbleibseln ihrer Eiswaffel, spielt auf Zeit. »Sehe ich aus, als hätte ich es nötig, einem Typen wie dir was zu beweisen?«, fragt sie schließlich.
»Ganz schön große Klappe.« Er betrachtet sie neugierig. Herausfordernd.
Noa starrt zurück, aber nicht lange. Bevor die Sache peinlich werden kann, entscheidet sie sich, den Rückzug anzutreten. Oder besser: ihn stehen zu lassen, weil er ihrer nicht würdig ist. So ein Komiker von Asphaltcowboy. Was bildet der sich eigentlich ein? Und überhaupt: Ist die ganze Welt heute früh nur aufgestanden, um auf ihr herumzuhacken?
Endlich ein Lichtblick: Tom, ihr unsportlicher, katzenfreundlicher Nachbar aus der sechsten Etage, begegnet Noa im Fahrstuhl und will die Gelegenheit nutzen, ihr den Wohnungsschlüssel zurückzugeben, weshalb sie ihm in sein Apartment folgt. Seit einigen gemeinsamen DVD -Abenden mit Audrey und seiner Freundin Laura kennt sie sich dort aus. Es ist deutlich kleiner als ihres und wirkt zugestellt, allein schon wegen der mit Büchern und allerlei Ethno-Krimskrams überladenen Regale und der fünf Computer-Flachbildschirme, die auf einem ellenlangen Schreibtisch an der Wohnzimmerwand in Reihe geschaltet sind. Tom und Laura sind gefragte Programmierer. Oft kommen sie tagelang nicht aus dem Haus und witzeln darüber, dass die tolle Aussicht an Nerds wie sie eigentlich verschwendet sei.
»Cola, Wasser, Bionade?«
»Nichts, danke. Hatte gerade ein Eis.«
»Als Entschädigung für einen harten Schultag?«
Sah man ihr das an?
»Lass mich raten – Vokabeltest. Englisch oder Französisch.«
Noa ist verblüfft. »Englisch.«
»Diese Lehrer. Die ändern sich nie.«
Sie plaudern noch ein wenig. Über die Wärme und den roten Staub. Über Schule, Katzen und die beklopptesten Apps seit Entdeckung des Smartphones. Tom kennt sich gut aus und lädt ihr ein noch unveröffentlichtes Spiel aufs Handy, der ideale Zeitvertreib für die nächste öde Schulstunde. Was sie an Tom schätzt: Anders als andere Männer, die ungefähr in Audreys Alter sind, probiert er gar nicht erst, Noa über ihre Schwester auszuhorchen. Gut, er hat ja auch schon eine Freundin. Eine supersympathische sogar, witzig, klug und rundlich, genau wie
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