Falsche Nähe
keine zehn Uhr. Spätestens mittags wird die Luft glühen, dann hilft nur noch ein Bad im Mittelmeer. Darauf freut sie sich am meisten. Was ihr vorschwebt: glasklares Wasser in einer Felsenbucht, Aquamarinblau, ein Schimmer von Türkis. Der Strand feinsandig und natürlich privat – ein Hochglanzidyll, nur besser, weil echt. Ja, sie ist verwöhnt. Ein neues, aufregendes Lebensgefühl.
Um den durchaus greifbaren Traum wahr werden zu lassen, müssen sie allerdings der Vorhölle des Ankunftsbereichs entkommen. Ringsum Ströme von Reisenden und Fahrzeugen: Privatwagen, Taxis, Busse. Es wird gedrängelt und gehupt, als ginge es um Leben und Tod, die Autos parken in zweiter und dritter Reihe, blockieren teilweise rettungslos verkeilt den nachfolgenden Verkehr, während ein Polizist mit Trillerpfeife sich redlich bemüht, für Ordnung zu sorgen. Noa ist fasziniert, aber nicht überrascht, solche Zustände kennt sie, neuerdings weitgereist, von Rom und Barcelona. Im Süden ticken die Leute anders. Wie das Wetter.
Ob Audrey diesmal mit ihr schwimmen geht? Eher nein. Noa sieht zur Seite. Entgegen ihrer Absicht, die Schwester die ganze Zeit im Blick zu behalten, ist sie ihrer Neugier und der Versuchung erlegen, sich einfach treiben zu lassen. Nun sind sie getrennt worden. Nachdem sie sich mehrmals um die eigene Achse gedreht hat, beschließt sie den Parkplatz der Mietwagenfirma allein ausfindig zu machen. Sie ist ein großes Mädchen.
Während sie ihren Rollkoffer durch Horden verschwitzter Pauschaltouristen manövriert, von denen zwar nicht alle, aber erschreckend viele so früh am Tag bereits Dosenbier konsumieren, überlegt Noa, warum ihre Schwester ausgerechnet für einen Wochenendtrip nach Mallorca den eigenen Prinzipien untreu wurde. Denn Audrey hasst Inseln. So gern sie auch um die Welt fliegt, solange es irgend möglich ist, steigt sie überall nur auf dem Festland ab. Von der bevorstehenden Geburtstagsparty am Abend – Anlass der Stippvisite auf den Balearen – muss sie sich einiges versprechen. Aber was? Noa hat probiert, Audrey zu löchern. Bislang vergeblich.
Über einen Seiteneingang erreicht sie das Parkhaus und sucht nach den Stellplätzen des richtigen Anbieters. Die Beschilderung ist nicht besonders hilfreich. Von draußen treibt ein heißer Wind die Abgase durch die Reihen, ein süßlicher Gestank. Es herrscht Hochbetrieb. Das Quietschen der Reifen auf glattem Beton, das Aufheulen, wenn jemand den Motor startet und im Leerlauf aufs Gaspedal tritt. Manche Fahrer lassen es sich sogar hier drinnen nicht nehmen, dauerhaft die Hupe zu betätigen. Der Lärm hallt von den Wänden wider, multipliziert mit seinem eigenen Echo.
Wo steckt bloß Audrey? Allmählich wird Noa doch etwas nervös, was mit Sicherheit auch an der Wärme liegt. Ihr wird schwindelig davon. Sie wünschte, sie hätte vorhin am Mietwagenschalter besser aufgepasst, als die Formalitäten erledigt wurden. Dann wüsste sie vielleicht noch die Nummer des Stellplatzes.
Als sie Audrey endlich entdeckt – neben dem geöffneten Kofferraum eines mintfarbenen Cabrios – ist die Schwester sogar noch aufgelöster als Noa selbst. Sie fallen sich in die Arme.
»Wo warst du denn bloß?«
»Wo warst du ? Erst warst du doch hinter mir und dann plötzlich weg.«
»Ich musste noch ein Buch signieren, stell dir vor. Irgend so eine alte Schachtel hat sich an mich geheftet und ließ sich nicht abschütteln.«
»Tja, du bist eben eine Berühmtheit.«
»Übertreib nicht gleich.«
Von Übertreibung kann keine Rede sein. Audreys Thriller stehen seit einiger Zeit auf den Bestsellerlisten. Einer wurde bereits sehr erfolgreich verfilmt, weshalb Audrey ziemlich oft fürs Fernsehen interviewt wurde, seitdem kennt sie fast jeder, was einerseits cool ist, aber auch Nachteile hat. Dauernd wird sie von Fremden angequatscht: im Supermarkt, im Restaurant, beim Joggen an der Elbe. Sicher, die meisten Leute sind nett und höflich, manche legen jedoch eine Distanzlosigkeit an den Tag, die geradezu unheimlich ist. Für gewöhnlich steckt Audrey solche Störungen mit arroganter Lässigkeit weg.
Heute hingegen ist sie ziemlich von der Rolle, wie sich wenig später zeigt, als sie schon im Wagen sitzen, im Begriff, das Parkhaus zu verlassen: Audrey schiebt die Karte in den Schlitz – doch anstatt zügig Gas zu geben, sobald die Schranke sich hebt, zieht sie die Handbremse, lässt die Stirn auf das Lenkrad sinken und gibt ein seltsames Stöhnen von sich, eine Mischung aus
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