Falsche Nähe
Schluchzen und Wutschrei. Noa ist eher verwirrt als erschrocken.
»Was ist los?«
Hinter ihnen Hupkonzert. War ja klar.
»Audrey? Du musst fahren.« Behutsam legt sie ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter.
Audrey hebt den Kopf und schüttelt sie ab. »Ich muss überhaupt nichts«, sagt sie und drückt einen Knopf auf dem Armaturenbrett, worauf die Klimaanlage sich fauchend einschaltet und einen zornigen Strom Kaltluft in ihre Gesichter bläst.
»Audrey!«
»Nix Audrey. Es geht einfach nicht, dass wir uns so aus den Augen verlieren. Du bist noch keine achtzehn. Vergiss das nicht.«
»Ist doch nichts passiert.«
»Es hätte aber sonst was passieren können.«
»Und was bitte soll das sein: sonst was?«
»Das willst du nicht wissen, Noa, das schwör ich dir.«
Noa starrt ihre Schwester entgeistert an. Manchmal sagt sie Sachen, die einem Schauer über den Rücken jagen, einfach so aus dem Nichts heraus. Es könnte mit ihrer Arbeit zusammenhängen, den düsteren Büchern. Kopfschüttelnd wendet Noa sich ab.
Die Schranke ragt immer noch steil nach oben, ein rot-weiß gestreifter Fels in der Brandung. Leider sind die Autofahrer, die ihretwegen warten müssen, weit weniger geduldig. Im Seitenspiegel beobachtet Noa, wie drei Fahrzeuge hinter ihnen ein massiger Typ aus einem Pick-up steigt und mit entschlossenen Schritten in ihre Richtung marschiert. Glücklicherweise entdeckt Audrey ihn ebenfalls und tut das einzig Richtige, indem sie einen Gang reinwürgt und endlich losfährt.
Fünf Minuten später Harmonie pur. Sie haben die Sonnenbrillen aufgesetzt, lassen die Haare im Fahrtwind wehen, zusammen mit dem Eishauch der Klimaanlage ergibt sich ein angenehmer Mix, der die Gemüter kühlt. Sie hören Musik, Dark Side of the Moon , ein legendäres Album von Pink Floyd. Audrey steht auf altes Zeug und Noa lässt sich gern mitreißen. Sie ist froh, dass die Stimmung gerettet ist.
Das Mittelmeer wartet. In Gedanken geht sie ihre Bikinis durch: den bunten, den schwarzen mit Perlen, den braunen, der so komisch golden changiert. Obwohl sie nur bis morgen Abend hier sein werden, hat sie vorsichtshalber eine Auswahl in den Koffer gesteckt. In den großen Ferien hat sie zu wenig Sonne abbekommen. Erst das schlechte Wetter, dann Liebeskummer, der Sommer vergeudet. Mit ihrer Figur steht es auch nicht zum Besten, wenn sie ehrlich ist. Zu wenig Busen, definitiv. Egal, besser als fett.
»Mallorca ist ziemlich groß«, sagt Audrey unvermittelt. »Für eine Insel.«
»Kann sein.«
»Ich finde, es fühlt sich überhaupt nicht an, als würde man sich auf einer Insel befinden.«
Um ihrer Schwester einen Gefallen zu tun, stimmt Noa zu.
Audrey ist noch nicht fertig mit der Selbstbeschwörung: »Der Verkehr, die breiten Straßen. Alles völlig normal. Da vorn kommt ein richtiges Autobahnkreuz. Siehst du?«
Noa nickt, wenngleich sie nicht weiß, warum das ein Argument dafür sein soll, einer Insel den Inselcharakter abzusprechen. Solange es Audrey hilft, sich wohlzufühlen – bitte.
»Da vorn müssen wir, glaube ich, rechts ab Richtung Andratx«, sagt sie.
Doch wie gewöhnlich hört Audrey nicht auf sie, sondern steuert stur geradeaus.
Dann eben Palma. Rechts erhebt sich eine Kathedrale aus hellem Sandstein, die unzähligen Türmchen wie riesige Buntstifte, die jemand aneinandergeklebt hat. Links der Hafen mit Kreuzfahrtschiffen an einer Pier. Fast wie zu Hause.
Zu guter Letzt landen sie in einer Bar etwas außerhalb der Stadt, direkt an einer belebten Strandpromenade. Kein Zufall, wie sich zeigt, drinnen werden sie bereits erwartet. Julian, Gastgeber der ominösen Geburtstagsparty am Abend, empfängt sie mit großem Hallo. Soweit Noa weiß, ist er ein alter Freund Audreys, aber da er überwiegend auf Mallorca lebt, kennt sie ihn nur flüchtig. Von den Leuten, die mit ihm am Tisch sitzen, hat sie nur eine der ausnahmslos attraktiven Frauen zuvor schon einmal gesehen, und zwar auf einer Buchpremiere. Der Name ist ihr entfallen.
Peinlich, so etwas passiert ihr ständig in Audreys Kreisen, wohingegen ihre Schwester sich etwas darauf einbildet, nie ein Gesicht zu vergessen. Was sie sogleich erneut unter Beweis stellt, indem sie mit der für sie so typischen, seltsam widersprüchlichen Mischung aus Distanziertheit und Wärme alle am Tisch einzeln begrüßt. Küsschen links, Küsschen rechts, ein paar persönliche Worte, um Interesse zu bekunden – und zu demonstrieren, wie sehr sie auf Zack ist: »Was macht deine neue
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