Falsche Väter - Kriminalroman
Unzugänglichkeit längst verloren hatte, gab es noch versteckte Orte abseits
der ausgeschilderten Reit-und Wanderwege. Um zur Hütte zu gelangen, musste man
zunächst ein Stück über einen gut ausgebauten Wanderweg fahren. Dann bog man in
einen schmalen, von Gebüsch und Brombeeren halb zugewucherten Hohlweg ein.
In dem einfachen Holzbau gab es
Strom, fließend Wasser und sogar eine Dusche. Im hinteren Teil des Hauptraumes
befand sich eine Kochnische. Wie in holländischen Ferienhäusern war nur das Notwendigste
vorhanden, aber es war gemütlich dort, und von der Bank auf der Veranda aus
hatte man einen schönen Blick auf das Hochwild, wenn es in der Dämmerung aus
dem Dunkel des Waldes trat. Wen die Einsamkeit nicht störte, der konnte es hier
gut ein paar Tage aushalten.
Grossmann bog in den Hohlweg ein
und fuhr vorsichtig weiter. Als der Weg zu eng wurde, ließ er Anna aussteigen.
Sie schob ein paar störende Äste zur Seite. Grossmann stellte das Auto links
neben der Hütte ab, stieg aus und holte den Schlüssel aus dem Versteck. Er
öffnete die schwere Holztür und trat ein. Obwohl es in der Hütte ein wenig
muffig roch, ließ er das Fenster zu und ging zum Auto zurück.
Anna stand vor den
Brombeerbüschen. Sie streckte ihren jugendlichen Körper, um an die reifen Beeren
zu kommen. Das Tattoo schien sich über ihren ganzen Rücken zu ziehen.
»Kannst du mal kommen?«, rief
Grossmann.
»Was ist denn?«
»Könntest ruhig mal mit
anpacken!«
Anna drehte sich um. Irgendetwas
gefiel ihr nicht. Irgendwie war Onkel Theo anders als sonst. Sie hatte es schon
im Auto bemerkt. Mit dem Rasierwasser hatte es begonnen, und jetzt hatte sich
sogar seine Stimme verändert. Anna sah zu dem Hochsitz am Waldrand hinüber. Für
einen Augenblick meinte sie, dort eine Bewegung gesehen zu haben. Sie kümmerte
sich aber nicht weiter darum, schlenderte zu Onkel Theo und trug einen Karton
mit Hochprozentigem in die Hütte. Dann setzte sie sich, streifte die Schuhe ab
und legte die Füße auf den Tisch.
»Wozu brauchst du das ganze Zeug
eigentlich?«, fragte sie.
»Meine Freunde haben mich
auserkoren, die Bar aufzufüllen«, sagte er.
»Welche Bar denn?«
»Na ja. Sagt man so«, wich
Grossmann aus. »Ich sollte die Vorräte auffrischen.«
»Trinken die denn so viel?«,
fragte Anna verwundert.
»Die nicht. Aber ich. Jedenfalls
in letzter Zeit.«
Grossmann machte sich nicht die
Mühe, die Sachen in den Schränken zu verstauen. Er ließ sie auf dem Tisch
stehen, zog eine Wodkaflasche aus dem Karton und drehte den Verschluss auf.
Hastig füllte er ein Wasserglas und leerte es zügig.
»Willst du auch?«, fragte er,
während er sich nachschenkte.
»Bist du verrückt geworden!«,
schimpfte Anna. »Du weißt doch genau, wie sehr ich dieses Zeug hasse. Oder hast
du vergessen, was mit Mama passiert ist?«
»Ach, die Sonja«, sagte
Grossmann. »Deine Mutter war schon früher ziemlich daneben.«
»Das ist nicht wahr!«,
entrüstete sich Anna. »Auf Mama konnte ich mich immer verlassen. Erst im
letzten Jahr ist irgendetwas passiert, und sie hat zu trinken angefangen!«
Anna stand auf und ging zu dem
Foto, das neben der Eingangstür hing. Es war ein Polaroidbild, auf dem vier
Männer zu erkennen waren. Sie sahen auf dem Foto jung und abenteuerlustig aus.
Onkel Theo war der Zweite von rechts. Er trug einen Sonnenhut und hatte ein
Gewehr in der Hand, mit dem er auf den Betrachter zielte. Das Foto war an einer
Schießbude entstanden, auf der Dürener Kirmes. Onkel Theo hatte Anna einmal
erzählt, dass sie dieser Kirmes ihren Namen verdankte. Aber das alles war so
lange her, dass die Farben auf dem Bild inzwischen verblasst waren.
Anna drehte sich um und sah zu
Onkel Theo hinüber. Er hatte sich in den letzten Monaten stark verändert. Sein
Gesicht war hager und grau geworden, die Haare schütter, und ihm war ein
kleiner Bauch gewachsen. Es muss der Alkohol sein, dachte sie. Er macht die
Leute leer, höhlt sie von innen aus und bläht gleichzeitig ihre Bäuche auf. Bei
Mama ist es ganz ähnlich.
Sie ging zu dem Panzerschrank
mit den vier Jagdgewehren, die schon lange nicht mehr benutzt worden waren.
Früher hatte es ihr Spaß gemacht, die Waffen zu putzen und zu ölen.
»Komm, setz dich zu mir«, sagte
Onkel Theo, und Anna kehrte an den Tisch zurück. Sie zog ihr Handy aus der
Hosentasche, um ihn zu filmen, wie er am Tisch saß und trank. Ihr war
langweilig.
»Lass den Blödsinn!«, sagte er
schroff.
Anna zuckte zusammen und
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