Falsche Väter - Kriminalroman
ja?«
Anna drückte van de Loo ihr Handy in die Hand und verließ das
Zimmer. Van de Loo hielt das Gerät an sein Ohr und lauschte. Zuerst war nur ein
Kratzen zu hören, undeutbare Geräusche, eine männliche Stimme im Hintergrund.
Dann kam ein dunkles Atmen hinzu, das bald wie ein Hecheln klang. Stoßweise
presste es sich aus einem Körper, als müsste es sich befreien. Daneben waren
Laute zu hören, die jemand zu unterdrücken versuchte und die von dem dunklen
Stöhnen überlagert wurden, das von Atemzug zu Atemzug heftiger wurde. Van de
Loo hörte, wie sich das rhythmische Stöhnen steigerte. Die Geräusche krochen
wie schmutzige Würmer in sein Hirn, bis er es nicht mehr aushielt, das Handy
abschaltete und zur Tür ging.
Anna stand auf dem Flur, den Kopf gesenkt und die Arme fest um die
Brust geschlungen, als sei ihr kalt. Van de Loo trat an sie heran und berührte
vorsichtig ihren Arm. Sie zog ihn weg, ging in Katharinas Zimmer zurück und
setzte sich wieder aufs Bett.
»Zum Glück sieht man wenigstens nichts!«
»Ist das etwa ein Film?«, fragte van de Loo erschrocken.
»Eigentlich schon. Aber es ist nur die Zimmerdecke zu sehen. Sonst
gibt es keine Bilder.«
»Was ich gehört habe, ist ziemlich eindeutig. Da braucht es keine
Bilder. Wann ist das passiert?«
»Gestern«, sagte Anna leise. »Gestern, am späten Nachmittag.
Komisch, wenn einem so eine Scheiße passiert. Man kennt das ja aus Filmen. Man
stellt sich vor, dass es auch in Wirklichkeit so ist. Aber das stimmt nicht. Es
ist ganz anders, eine furchtbare Scheiße. Und jetzt, jetzt bin ich die Scheiße
selbst!«
»Du bist keine Scheiße!«, sagte van de Loo.
»Ich fühl mich aber so!«
»Das ist aber falsch.« Van de Loo suchte Annas Blick, aber sie wich
ihm aus. Plötzlich lachte sie bitter auf. Dann weinte sie.
»Warst du beim Arzt?«, fragte van de Loo nach einer Weile.
Anna schüttelte den Kopf.
»Solltest du aber. Und die Polizei? Hast du die Polizei angerufen?«
Anna schüttelte wieder den Kopf.
»Du musst diesen Scheißkerl anzeigen! Auch wenn eine Anzeige gegen
unbekannt wahrscheinlich nichts bringt. Kannst du ihn beschreiben?«
»Natürlich kann ich das. Aber zuerst will ich mit ihm reden«, sagte
Anna. Sie hob den Kopf und sah van de Loo an.
»Reden?«, fragte er entgeistert. »Sag nur noch, du kennst den Kerl?«
»Ja. Schon lange. Er heißt Theo Grossmann und hat ein Geschäft in
Goch. Landhandel. Sein Name steht groß und breit auf seinem Wagen, aber für
mich war er immer nur Onkel Theo.«
»Na prima. Onkel Theo. Jemand aus der Familie. Der klassische Fall.
Und jetzt willst du also mit diesem Onkel in aller Ruhe darüber reden, warum er
dich vergewaltigt hat?«
»Ich möchte wissen, was mit ihm los ist, und sehen, wie er reagiert,
wenn ich ihm ins Gesicht sage, was ich von ihm halte. Und dann zeig ich ihn
vielleicht an.«
»Weißt du denn, wo er im Augenblick ist?«
»Wahrscheinlich ist er noch in der Hütte.«
»Ist es da passiert?«
»Ja.«
»Und du meinst, dass er noch dort ist?«
»Ja«, sagte Anna. »Er hat bestimmt weitergetrunken. Außerdem glaube
ich, dass er auf mich wartet. Allein trau ich mich nicht. Würden Sie mit mir
dahin fahren?«
Van de Loo spürte den Druck des Sicherheitsgurtes auf der Brust und
über dem Bauch. Er hatte Johannas Wagen genommen, tauchte unter der Autobahn
durch und folgte der Xantener Straße, die durch ein ausgedehntes Waldstück
führte.
Obwohl es bis vor ein paar Stunden geregnet hatte, war der Parkplatz
gut gefüllt. Zum Großteil handelte es sich bei den Spaziergängern um
Wochenendausflügler aus dem Ruhrpott, denn von jedem dritten Kofferraum grüßte
das blaue Emblem von Schalke 04. Der Rest huldigte dem BVB oder der Insel Sylt. Borussia Mönchengladbach, die Macht
vom Niederrhein, war kaum vertreten.
Van de Loo fuhr bis ans Ende des Parkplatzes. Ein Schild verbot die
Weiterfahrt.
»Wir müssen den Wagen hier abstellen«, sagte er.
»Ach was! Fahren Sie einfach weiter«, sagte Anna. »Onkel Theo macht
das auch immer.«
»Dem gehört wohl der Wald, was? Ich darf da jedenfalls nicht rein.
Das kann teuer werden.«
»Fahren Sie schon«, drängte Anna. »Das ist schließlich ein Notfall!«
Van de Loo fuhr weiter. Der Fußweg war ziemlich breit und gut
ausgebaut, aber direkt vor ihnen spazierte ein Paar mit Hund. Sie gingen mitten
auf dem Weg und taten eine ganze Zeit lang so, als würden sie das Auto in ihrem
Rücken nicht hören. Van de Loo wartete geduldig, bis sie
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