Die Knochenfrau
1. Frau Schneider begegnet ihrer Patentante
Es war später Nachmittag, draußen zwitscherten die Vögel und die alte Frau lag im Bett. Ihren Kopf hatte er zur Seite gedreht und ihr ein Kissen untergelegt. So konnte sie ihn beobachten, bei seinem täglichen, gleichförmigen Tun. Sie sah, wie er das Geschirr abwusch, abtrocknete und einräumte. Er machte es falsch, verbrauchte viel zu viel Wasser. Aber sie konnte nichts tun, nicht zu ihm gehen und „Lass mich das mal machen” sagen, so wie sie es früher immer getan hatte. Sie lag einfach da und sah ihm zu, hörte das Wasser laufen. Als er eingeräumt hatte, da schloss er den alten Staubsauger an und saugte den Teppichboden. Das dauerte etwa zwanzig Minuten. Anschließend wischte er die Regale.
Das Haus war sauber … viel zu sauber. Das Putzen half gegen die Langeweile, irgendwie musste man die verdammte Zeit ja totschlagen. Er putzte und sie beobachtete ihn, so ging das Tag für Tag. Manchmal sah er sie an und fragte sie irgendetwas, dann blinzelte sie einmal oder zweimal. Einmal stand für „Ja“, zweimal für „Nein“. Und dreimal für „Weiß nicht“. Oder er setzte sich einfach zu ihr, las ihr aus der Zeitung vor und erzählte von früher, von den guten Zeiten. Erzählte von den Reisen nach Venedig, nach Paris, nach Amsterdam und ins goldene Prag. Günstige Busreisen aus dem Katalog, nichts Extravagantes. Das konnten sie sich leisten von seiner kleinen Rente. Er war Hilfsarbeiter, Maschinenbediener. Sie war Hausfrau, hatte Köchin gelernt aber nie in diesem Beruf gearbeitet.
Der alte Mann warf den Lappen, mit dem er die sauberen Fenster gewischt hatte, in die Spüle. Er verharrte einen Augenblick, sah sich in der Küche um und suchte nach einer neuen Aufgabe. Als er keine fand, da ging er zu ihr … zu der Frau, die früher so gerne und so wild getanzt hatte. An den Wänden rund um ihr Bett – die drei Männer von der Firma für Pflegebedarf hatten es vor drei Jahren im Wohnzimmer aufgebaut und da stand es nun – hingen mehrere Andenkenteller. Bunt bemaltes Porzellan: Eiffelturm, schiefer Turm von Pisa, Karlsbrücke, Brandenburger Tor ... Seine Frau hatte diese Teller geliebt, aus jedem aber auch jedem Urlaub brachten sie mindestens einen mit. Stunden verbrachte sie an den Ständen. Er hatte einmal versucht, es ihr auszureden. Aber sie sagte, sie brauche die Teller, um sich zu erinnern … als Beweis, dass sie tatsächlich dort gewesen sei. In ihren Augen lag heiliger Ernst, als sie das sagte, und so ließ er ihr die Teller. Über die Jahre bedeckten sie die Wände des kleinen, schon ein wenig baufälligen Hauses: Zwanzig im Wohnzimmer, zwölf die Treppe ins obere Stockwerk entlang, acht in der Küche und sieben im Schlafzimmer. Jedes Mal, wenn er an ihnen vorbeiging, wurde er traurig. Ja, sie waren Erinnerungen an schöne Zeiten. Zugleich aber erinnerten sie ihn daran, dass diese Zeiten ein für allemal vorbei waren. Nie mehr würden sie beide aus diesem Haus hier herauskommen. Und wenn doch, dann an keinen besseren Ort. So lange es seine Gesundheit mitmachte, solange würden sie hier durchhalten, die Stellung halten. 46 Jahre waren sie verheiratet, hatten gemeinsam gute und schlechte Zeiten durchlebt. Wenn sie sich stritten, dann sagte seine Frau immer: „Du bist ein Esel, aber ich behalte dich ja doch … kommt ja eh nichts Besseres nach.”
Der alte Mann zog seine, um die dünnen Beine schlackernde, Jogginghose hoch und fragte seine Frau, ob er etwas für sie tun könne. Sie blinzelte zweimal, das hieß nein. Also ging er zurück in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an. Er wusste, dass ihr das Blubbern gefiel. Das Blubbern und der Geruch. Seine Frau war Zeit ihres Lebens eine begeisterte Kaffeetrinkerin. Vier, fünf Tassen am Tag. Und sie kannte sich aus. Da konnte ihr keiner was vormachen. Sie wusste, wo welche Bohnen angebaut wurden, sie erkannte verschiedene Röstungen am Geruch. Sie hätte ein Buch darüber schreiben können, dachte er. „Das große Kaffee-Buch” von Wilma Schneider. Aber seine Frau hätte nie ein Buch schreiben können, das Bücherschreiben war eine fremde Welt. Ebenso gut hätte sie zum Mond fliegen können. Allein die Idee war lächerlich.
Der alte Mann stöhnte leise auf, setzte sich an den kleinen Küchentisch und trank einen Schluck. Hier konnte sie ihn nicht sehen. Sie mochte den Geruch des Kaffees und die Geräusche, die die große rote Maschine machte. Aber sie wollte es nicht sehen. Sie selbst
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