Falsche Väter - Kriminalroman
warst du gestern hier?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Gegen acht war ich jedenfalls wieder bei Oma.«
»Wie bist du dahin gekommen?«
»Mit dem Bus.«
»Warum hast du die Polizei nicht angerufen und Grossmann angezeigt?«
»Ich war zu durcheinander. Onkel Theo war doch bis dahin immer so
nett zu mir gewesen. Außerdem bin ich beinahe gestorben vor Scham.«
»Und dann? Was hast du dann gemacht?«
»Dann habe ich gebadet, weil ich das alles wieder wegmachen wollte!
Warum fragst du mich das?«
»Weil dich die Polizei das auch fragen wird.«
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« Anna war aufgesprungen und sah van
de Loo mit wütend funkelnden Augen an.
»Ich versuche, die Wahrheit herauszufinden.«
»Aber ich sage die Wahrheit! Ich war hier. Gestern. Und dann ist es
passiert.«
»Und heute?«, fragte van de Loo vorsichtig.
»Heute? Was willst du damit sagen?«
»Könnte ja sein, dass du heute noch mal zurückgekommen bist.«
»Und warum?«
»Um dich an deinem Vergewaltiger zu rächen.«
»Spinnst du, oder was? Meinst du, ich hätte ihn umgebracht?«, schrie
Anna mit sich überschlagender Stimme. »Ich hätte es vielleicht in dem
Augenblick gemacht, als er über mich hergefallen ist. Aber ich hatte keine
Möglichkeit!«
»Sie werden dich verdächtigen.«
»Ich weiß«, sagte Anna leise. »Aber ich war es wirklich nicht. Ich
hab Onkel Theo nämlich ziemlich gern gehabt. Auch wenn sich das blöd anhört.
Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Nur in letzter Zeit war er komisch,
ganz anders als sonst. Er hat zu saufen angefangen, und gestern ist er dann
völlig durchgedreht. Ich weiß auch nicht, warum.«
Sie schluchzte und ließ ihren Tränen endlich freien Lauf. Van de Loo
legte vorsichtig seinen Arm um ihre Schulter. Er schaute über die Lichtung zum
dunklen Waldrand hinüber. In der Ferne war das Martinshorn eines Polizeiwagens
zu hören.
ZWEI
21.24 Uhr. Ein Junge läuft über den Bürgersteig. Vorgestern
ist er elf Jahre alt geworden. Er kennt den Weg, und es ist nicht weit bis zum
Zebrastreifen. Er muss nur fünfzig Meter laufen und dann die Straße überqueren.
Sein Opa steht sicher schon am Fenster und wartet auf ihn.
Kriminalhauptkommissar Carsten Peters war ein sturer Bock, der
ungelöste Fälle als persönliche Beleidigung empfand. Er war Anfang fünfzig,
spielte aber gern den alten Mann und kleidete sich entsprechend. Manche hielten
ihn für einen kleinkarierten Korinthenkacker, der vor dem Schlafengehen die
Vorschriften studierte, damit ihm niemand an den Karren pinkeln konnte. Für
andere war er ein ausgemachter Zyniker, der verächtlich auf die übrige
Menschheit und ihre kleinen Freuden herabschaute.
Tatsächlich war Peters ein Einzelkämpfer, und die Kollegen konnten
froh sein, wenn er sie grüßte. Er arbeitete am liebsten allein, weil er es auf
den Tod nicht ausstehen konnte, wenn ihn jemand bei einem Fehler ertappte. In
seiner kleinen Eigentumswohnung duldete er neben sich nur eine Schlange, der er
den Namen Anneliese gegeben hatte. Sie lebte in einem großen Terrarium, machte
sich kaum bemerkbar und brauchte nur alle paar Wochen gefüttert zu werden.
Im Klever Polizeipräsidium hatte er ein Büro, das den Charme einer
Kühlkammer versprühte. Der Polizeipräsident war einverstanden gewesen, dass
Peters in dieses Kellerverlies zog, hatte aber unmissverständlich klargemacht,
dass er nicht bereit war, auch nur einen einzigen Cent für irgendwelche
Verschönerungsarbeiten auszugeben. Schließlich gab es oben Arbeitsplätze genug.
Peters war das egal. Er legte keinen Wert auf Gemütlichkeit am Arbeitsplatz,
wollte nur seine Ruhe haben und rauchen, wenn ihm danach war.
Er war gerade dabei, seine Sachen zu packen und nach Hause zu gehen,
als der Anruf kam.
Es war Freitagnachmittag, kurz vor fünf. Max Scheler, einer der
wenigen Kollegen, die Peters noch nie angeschnauzt hatte, berichtete in knappen
Worten von einem Toten in der Bönninghardt. Mord in einer Jagdhütte. Peters
fragte nach Einzelheiten, aber Scheler wusste nichts Genaueres.
Peters ließ alles stehen und liegen, nahm seine Jacke und machte
sich auf den Weg. Er hatte kein gutes Gefühl, als er das Präsidium verließ.
Alles in ihm sträubte sich, in den Wagen zu steigen und zu dieser Jagdhütte zu
fahren. Er musste sich geradezu zwingen, nicht umzukehren und sich wieder in
seinem Kellerloch zu verkriechen. Erst als er eingestiegen und Scheler ein
Stück gefahren war, wurde ihm klar, warum sein Körper so reagierte.
Weitere Kostenlose Bücher