Falsche Väter - Kriminalroman
Es sah aus, als wollte
er eine Meditationsübung machen.
»Der Junge hätte eine Chance gehabt, wenn wir sofort geholfen und
die Blutung zum Stillstand gebracht hätten. Er hätte nicht sterben müssen. Wir
haben ihn verbluten lassen. Wir haben uns schuldig gemacht. Vor allem ich. Ja,
ich. Weil ich am Steuer saß und nur die richtige Fußbewegung hätte machen
müssen, um den Wagen zu stoppen. Das ist das Verrückte. Alles hätte auch ganz
anders sein können. Wenn jemand von den anderen gefahren wäre. Wenn wirklich
der gefahren wäre, der in einem ehrlichen Spiel verloren hätte, wäre das
bestimmt nicht passiert! Die Sache mit deiner Mutter wäre nicht nötig gewesen,
die anderen würden noch leben, und ich würde heute nicht sterben, denn
eigentlich ist das Leben viel zu schön, um es wegzuwerfen.«
Das Gift begann zu wirken. Schellings Lippen schwollen an, und er
versuchte vergeblich, den Schaum zu schlucken, der sich in seiner Mundhöhle
bildete. Er schwieg und starrte ins Leere. Als er aufstand, schwankte er und
musste sich an der Tischplatte festhalten. Sein Gesicht war kalkweiß; Schweiß
lief ihm über die Stirn.
»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte er mit zitternder Stimme. Die
Worte flossen jetzt wie ein träger Strom über seine Lippen. »Die Stricke habe
ich an einer Stelle mit Schwefelsäure behandelt. Sie werden sich bald auflösen.
Dann seid ihr frei. Bis dahin müsst ihr bei mir bleiben. Ich will diese
Geschichte unter Zeugen zu Ende bringen!«
Er nahm das Messer vom Boden auf und legte es auf den Tisch.
»Als Johannes es erzählt hat, an jenem Abend, konnte ich zuerst nicht
glauben, dass meine Freunde mich derart hintergangen und belogen hatten.
Jahrelang! Jahrzehntelang! Ich habe es keine Minute länger mit ihnen
ausgehalten. Ich bin aufgestanden, habe diese Hütte verlassen und erst wieder
betreten, als die Sache mit Theo passiert ist. Bis dahin hatte ich keinen der
drei noch mal gesehen. Und eigentlich habe ich sie nie wiedersehen wollen. Aber
dann ist es anders gekommen. Ich musste etwas tun. Jeder hat sich schuldig
gemacht. Die große Lüge von damals war der ursprüngliche Grund. Die Wurzel von
Lug und Betrug. Das Ende einer Freundschaft lag in ihrem Beginn.
Theo war der Erste. Ich wollte mit ihm über alles sprechen und
reinen Tisch machen. Deswegen bin ich hierhergekommen. Ich hatte seine Frau
angerufen und wusste, dass er in die Hütte fahren würde, um sich zu besaufen.
Anna. Von dir wusste ich nichts. Dich habe ich hier zum ersten Mal gesehen.
Aber ich wusste sofort, dass du es warst. Ich habe gespürt, dass etwas
passieren und Theo eine Grenze überschreiten würde. Ich habe es gespürt, als
ihr in die Hütte gegangen seid. Ich saß auf dem Hochsitz. Ich habe es geahnt,
und dennoch habe ich zu lange gewartet. Dann bist du im Hohlweg verschwunden.
Ich bin zur Hütte gerannt, aber zu spät gekommen. Theo saß da, das geladene Gewehr
in der Hand. Es gab kein Zurück. Er glaubte, er hätte nichts mehr zu verlieren,
weil er todkrank war. Das war ein Irrtum. Er wollte sich umbringen, aber er
hing noch zu sehr an seinem Leben. Ich musste ihm helfen. Ich musste es tun.
Ich habe ihm geholfen und ihn gleichzeitig bestraft. Die Verstümmelungen waren
ein Gruß an dich, Anna.«
Schelling trank ein letztes Mal aus der Schale. Mit zitternden
Händen hielt er sie vor seine Augen. Dann holte er aus und warf sie an die
Hüttenwand, wo sie zersplitterte.
»Und Moelderings hat das Geld für dich nicht überwiesen. Er hat es
mir am Telefon gesagt und außerdem versucht, Johannes zu erpressen. Er hat
nichts Besseres verdient. Hat jahrelang auf seinem sauberen Reiterhof kleine
Mädchen verführt. Hat sie gezwungen und erpresst und ihre Liebe zu den Pferden
ausgenutzt. Ich habe ihn mit einem Schlag getötet. Und dann habe ich ihm die
Finger abgeschnitten, mit denen man Geld zählt. Und schließlich Johannes.
Johannes Winkens.«
Schelling war kaum noch zu verstehen. Seine Stimme versagte
zwischendurch immer wieder. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er schwankte heftig
und konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten.
»Johannes Winkens. Der Mann mit der weißen Weste. Er war der Grund,
der Ursprung des Unglücks. Er war es, der geschrien hat, ich solle
weiterfahren. Er war der Schuldige, der Auslöser von allem. Und er hat immer so
getan, als habe er nichts mit der Sache zu tun. Als ginge ihn alles nichts an.
Ich habe ihn auf den Grund sinken lassen. Er ist ersoffen. Und ich habe ihm
seine
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