Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Eins
Sie kommt an einem Septembermorgen, in einer dürren Jahreszeit, die keinen Regen bringt. Sie ist ganz in Rot gekleidet. Blutrot. Wie ein Menschenopfer an die Götter, um Regen heraufzubeschwören. Wie eine Braut.
Am Haupttor will man ihr vom Pferd helfen. Die Frauen der Familie bekommen sie nicht zu fassen, ihre Hände greifen ins Leere. Saba schwebt in der Luft, sie seufzt, ihr Gesicht gleicht einem zersprungenen Spiegel. Wie auf dem einzigen Foto dieses endlos langen Tages. Der rote Schleier verbirgt ihre feuchten Augen.
Die Schwiegermutter steckt ihr zwei kleine Brote unter die Arme und schiebt sie ins Haus. Die Brote sind ein Symbol für Fruchtbarkeit. Aber die Fruchtbarkeit, die sich die Schwiegermutter erhofft, wird sie nicht mitbringen.
Ihr Mann sieht sie nicht einmal an. Er feiert mit Freunden. Er hat noch ein ganzes Leben Zeit, sie anzusehen.
»Dieser gerupfte Vogel ist das Los meines Sohnes«, sagt die Schwiegermutter.
»Nun, der zweite Stern glüht niemals so hell wie der erste«, antwortet eine Alte.
Es ist Omers zweite Ehe. Der erste Stern ist vor vielen Jahren erloschen. Die verstorbene Frau war Sabas Schwester. Tod im Wochenbett. Es schneite seit Tagen ununterbrochen, und man hatte Mühe, sie zu bestatten: Die Erde wollte sich nicht öffnen, um sie aufzunehmen. Von ihrem frühen Tod bleibt einzig die Erinnerung an die Anstrengung, jenes Loch zu graben.
Omer erinnert sich an gar nichts mehr. Zu viele Jahre, zu viel Grappa. Er hat seine Frau, Sultana, auf seine Weise geliebt. Nachts überhäufte er sie mit seinen armseligen, von der Dunkelheit verborgenen Küssen. Manchmal auch am Tage. Er folgte ihr heimlich auf die Felder, an den Dorfbrunnen.
»Ein echter Mann schmachtet einer Frau nicht auf offener Straße hinterher. Geh ihr nachts an die Wäsche, aber hör auf mit diesen Albernheiten«, sagte ihm die Mutter.
Keine der Frauen aus dem Dorf hatte Sultana jemals mit blauen Flecken im Gesicht gesehen. Ein nicht lange währendes Glück.
Viel Leid hält den Tod fern, lautet ein Sprichwort aus der Gegend. Auf Sultana trifft es nicht zu. Sie stirbt bei der Geburt ihrer Tochter, die ihr folgt. Omer ist verzweifelt, er fängt an zu trinken. Wenn er nachts das Haus verlässt, geht er zum Friedhof, setzt sich neben ihr Grab und raucht still seine Pfeife. Oft nimmt er die Grappaflasche mit, dann ist er wenigstens nicht alleine. Er erzählt ihr nie etwas. Seit sie fort ist, gibt es nichts mehr zu erzählen.
Zehn Jahre später hat Omer den Grund seiner Einsamkeit vergessen.
Eines Morgens erwacht er und findet die Grappaflasche nicht neben dem Bett. Er tritt ins Freie, die Sonne brennt ihm ins Gesicht. Er vergisst den Grappa und sieht sich um: Überall laufen Kinder.
»Mutter, von wem sind all diese Rotznasen?«, fragt er.
»Von deinen Brüdern«, antwortet sie.
»Ich selbst hab noch keine Kinder …«, stellt er etwas unsicher fest.
»Nein«, erwidert die Mutter, »aber wo ist das Problem?«
Sie verliert keine Zeit. Erst bringt sie das Gerücht in Umlauf, dann klopft sie selbst an die Türen der noch unverheirateten Mädchen.
»Wir haben keine Tochter zu vergeben«, antworten ihr die Frauen aus dem Dorf.
»Sollen sie bleiben wo der Pfeffer wächst«, flucht die Mutter am Abend. »Ich werde eine Braut für Omer finden.«
Sie geht zu Omers Schwiegermutter.
»Meliha«, erklärt sie, »ich muss eine Braut für Omer finden.«
»Die Zeit ist gekommen«, erwidert die andere, »aber dazu brauchst du schließlich nicht meine Einwilligung.«
»Ich bitte dich nicht um deine Einwilligung, sondern um eine weitere Tochter.«
Meliha erstarrt. Sie hat all ihre Töchter unter die Haube gebracht.
»Ich habe keine heiratsfähigen Töchter mehr. Die eine, die ich hatte, hab ich dir gegeben.«
»Ja, aber sie ist tot. Omer nicht.«
»Als du sie genommen hast, war sie nicht tot«, sagt Meliha.
»Man gibt den Mädchen ihren Mann, nicht ihr Schicksal. Um das Schicksal kümmert sich Allah«, entgegnet die andere.
Sie trinken schweigend Kaffee. Ein schmales Mädchen tritt ein, um die Tassen abzuräumen. Omers Mutter verfolgt sie mit dem Blick. Als das Mädchen das Zimmer verlässt, sehen sich die beiden Frauen an.
»Vergiss sie, sie ist noch ein Kind«, sagt Meliha.
»Sie wird heranwachsen.«
Heute kommt Saba in ihrem roten Brautkleid. Sie weint unter dem Schleier. Niemand sieht es. Sie ist erst fünfzehn Jahre alt, schmale Hüften, hohe Wangenknochen und ein blasses Gesicht. Sie wirkt abwesend, wie
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