Falsche Väter - Kriminalroman
de Loo. »Rühr das Mädchen nicht an! Wenn
ihr, Sonja oder Tante Gertrud was passiert, bringe ich dich um. Das schwör ich
dir!«
Er fuhr wie ein Wahnsinniger, prügelte den Volvo gnadenlos vorwärts,
überholte, hupte, nahm anderen Autofahrern, die von nichts wussten,
rücksichtslos die Vorfahrt. Die Landschaft schien an ihm vorbeizufliegen. In
Wirklichkeit flog er, und die Landschaft blieb, wo sie war. Und sie würde
wahrscheinlich bleiben, was sie war, ganz gleich, was in der nächsten halben
Stunde geschehen würde.
Am Straßenrand wiesen selbst gemalte Schilder auf alles Mögliche hin.
Blumen zum Selberpflücken, frische Kartoffeln, Milch, Schafe, Gänseeier. Man
konnte alles kaufen, nur keinen Ausweg.
Neben der Fahrbahn die Felder und Wiesen. Treibhäuser.
Spargelfelder. Kuhherden, die sich vor den Wiesengattern drängten. Schafe, mit
schlitzigen, undurchschaubaren Augen. Pferde, die stolz und einsam auf den
Koppeln standen. Zwei Rehe, die in ein Waldstück flüchteten. Und dann endlich
die Autobahnauffahrt.
Jetzt gab es nur noch Geschwindigkeit. In spätestens zwanzig Minuten
würde van de Loo die Ausfahrt »Alpen« erreicht haben. Von da waren es noch
einmal zehn Minuten bis zur Hütte. Höchstens. Eine halbe Stunde, in der viel
passieren konnte. Er trat das Gaspedal durch.
»Reisen statt rasen!«, empfahl ihm ein Straßenschild.
* * *
Als Anna und Sonja wieder zu sich kamen, saßen sie nebeneinander auf
zwei Stühlen, an Händen und Füßen gefesselt.
»Ich wollte euch nicht wehtun«, sagte Thomas Schelling. »Deshalb
habe ich euch außer Gefecht gesetzt. Ihr hättet euch gewehrt. Das ist ganz
natürlich. Kein Mensch lässt sich freiwillig festbinden. Aber so habt ihr gar
nichts davon gemerkt, oder?«
»Was soll das?«, fragte Sonja noch einmal. »Was hast du mit uns
vor?«
»Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Jemand muss die ganze
Geschichte kennen. Vom Anfang bis zum bitteren Ende. Ich will nicht, dass sie
in Vergessenheit gerät.«
»Dazu brauchst du uns nicht an Stühle zu fesseln!«
»Doch. Es sind nicht nur Worte, die eine gute Geschichte ausmachen.
Es muss etwas hinzukommen. Ich weiß, dass ihr nicht bis zum Ende hierbleiben
würdet. Hätte ich euch nicht gefesselt, ihr würdet sicherlich irgendwann
abhauen.«
»Ist sie so schlimm, deine Geschichte?«
»Sie ist nicht leicht.«
»Wovon handelt sie?«, fragte Sonja.
»Von dir. Von mir. Von Anna. Vom Kleeblatt. Von allem, eigentlich«,
sagte Schelling. »Es geht dabei um Leben und Tod. Aber ihr müsst keine Angst
haben. Der Tod ist nicht so furchtbar, wie man immer meint.«
»Woher willst du das wissen?«
Schelling gab keine Antwort. Er ging zu seinem Rucksack, entnahm ihm
ein Messer und legte es auf den Boden. Es hatte eine seltsam geformte, etwa
zwanzig Zentimeter lange Klinge. Dann griff er erneut in den Rucksack und holte
eine Thermoskanne und eine Teeschale hervor, die er sorgsam in Zeitungspapier
eingewickelt hatte. Lächelnd betrachtete er das wertvolle Stück. Es war die
Krönung seiner Sammlung. Während er mit dem Zeigefinger über den Rand strich,
erfasste ihn ein Gefühl der Erhabenheit. Er stellte die Schale genau in die
Mitte des Tisches. Dann schüttelte er die Thermoskanne, schraubte den Deckel ab
und füllte die Schale mit einer trüben graugelben Flüssigkeit. Er hob sie
langsam an die Lippen und trank einen kleinen Schluck.
»Was ist das?«, fragte Sonja.
»Ein Beruhigungsmittel.«
»Seit wann brauchst du Beruhigungsmittel?«
»Das ist Kahler Krempling. Ein Pilz. Ich habe ihn selbst gesammelt«,
sagte Schelling. »Er macht sehr ruhig. Ruhiger, als man es sich vorstellen
kann. Ich trinke das Zeug nur zur Sicherheit, für den Fall, dass etwas
schiefgehen sollte. Vielleicht wirst auch du davon trinken müssen.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass du mich verraten hast.«
»Ich habe dich nicht verraten«, sagte Sonja mit fester Stimme.
»Du hast den Leuten erzählt, was damals zwischen uns war. Du hast es
überall herumgeplappert!«
»Das ist nicht wahr«, sagte Sonja. »Ich habe keinem Menschen etwas
davon erzählt!«
»Das soll ich dir glauben?«
»Glaub, was du willst. Das ist dein Problem«, sagte Sonja. »Ich lüge
nicht. Warum sollte ich dich belügen? Ich sage die Wahrheit, und wenn jemand
etwas anderes behauptet, ist er ein Lügner!«
»Du willst dich nur herausreden, damit du nicht trinken musst.«
»Herausreden? Aus was denn? Ich stecke bis zum Hals in der Scheiße.
Da helfen keine
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