Falsetto
Sag es!« flüsterte Tonio. »Sag es, damit ich dir glauben kann.«
Langsam nickte Carlo.
»Sag es, Vater«, flüsterte Tonio.
»Ich schwöre ... daß ich... daß ich dir niemals wieder nach dem Leben trachten werde...«, murmelte er.
Dann beobachtete er mit stummem Erstaunen, wie Tonio ihm das Messer entgegenstreckte. »Nimm es, zerschneide damit den Riemen«, sagte Tonio. »Laß uns ein für allemal voneinander frei sein.«
Carlo nahm das Messer. Er führte die Klinge sofort nach oben und zerschnitt das Leder direkt an seinem linken Arm.
Der Riemen sprang mit einem lauten Schnalzen fort, Carlo machte mit dem Oberkörper einen Ruck nach vorn. Das Messer in der Hand, stand er vorsichtig auf. Tonio hatte ein paar Schritte rückwärts gemacht, aber er bewegte sich langsam.
Der lange Umhang schwang um ihn herum, das Feuer vergoldete dessen Saum und verlieh seinen dunklen Augen immer noch einen Schimmer.
Carlos Augen weiteten sich langsam. Wenn er nur sehen könnte, was sich unter diesen Falten aus schwarzer Wolle verbarg, die die Gestalt völlig einhüllten, wenn er nur den Ausdruck auf diesem Gesicht besser einschätzen könnte. Doch sein gesamtes Denkvermögen beugte sich dem Haß, den er in sich fühlte und der sich während dieses langen Nachmittags immer mehr gesteigert hatte, weil Tonio ihn hier festhielt, Tonio, den er verabscheute und vor langer, langer Zeit schon hätte töten sollen, Tonio, den Eunuchen, der ihn hier vor allen zum Narren gemacht hatte.
In einem letzten Akt der Verachtung ließ er seinen Blick langsam und vielsagend an Tonio hinauf- und hinabwandern, während sich sein Mund zu einem Hohnlächeln verzerrte.
Plötzlich machte er mit gezücktem Messer einen Satz nach vorn, griff dabei mit der linken Hand in den schwarzen Woll-stoff, um den schwachen Arm zu packen, der sich dort befinden mußte.
Die schwarz verhüllte Gestalt jedoch wich ihm aus, als wäre sie ein Trugbild. Das geschah so schnell, daß er die Bewegung nicht einmal richtig sah, dann hörte er, während er sich umdrehte, Tonios Degen sirren. Ein schmaler Streifen Licht schloß die Lücke zwischen ihnen. Schmerz schoß Carlo durch die Brust.
Das Messer fiel klappernd zu Boden.
Seine Finger griffen nach der Klinge des Rapiers, diesem Feuerstrahl, der ihn durchbohrte. Als er etwas zu sagen versuchte, füllte sich sein Mund mit einer warmen Flüssigkeit, die ihm das Kinn hinunterlief.
Es ist nicht zu Ende, nicht zu Ende! Aber seine Stimme ging in einem schrecklichen, gurgelnden Geräusch unter.
Als er spürte, wie er zu Boden sank und Finsternis sich über ihn legte, wurde sein Bewußtsein von absolutem Entsetzen erfüllt. Er sah, wie das Schimmern in Tonios Augen brach und davonfloß. Er sah Tonios verzweifeltes Gesicht, bevor es sich wieder glättete und diesen unschuldigen Ausdruck annahm.
2
Zwei Stunden lang blieb Tonio bei Carlo im Zimmer.
Carlos Körper wurde langsam kalt. Alle Lichter waren verloschen. Die Kerzen waren niedergebrannt, die Kohlen im Kamin zu Asche geworden. Tonio wollte Carlo mit seinem schwarzen tabarro bedecken. Er wollte Carlo die Arme an den Körper legen, aber er tat es nicht. Als es im Zimmer ganz dunkel geworden war, erhob er sich und verließ still das Haus.
Falls ihn jemand aus dem Seiteneingang hatte kommen sehen, so hatte Tonio ihn nicht bemerkt. Durch die calli, die er so gut kannte, folgten ihm keine Schritte. Kein Schatten war auf der großen, leeren Piazza hinter ihm.
Als er die Türen von San Marco erreichte und sie verschlossen vorfand, stand er zuerst wie betäubt da, bevor ihm klar wurde, daß ihm der Zutritt verwehrt war.
Schließlich lehnte er sich an eine der Säulen des Portikus und betrachtete den schwarzen Himmel über dem verschwommenen Umriß des Campanile.
Nur wenige Lichter erleuchteten die Fenster des Dogenpalastes. Hier und da öffnete sich bei einem der Cafés auf der Piazza die Tür. Jene, die gegen den Wind ankämpfend im Regen dahineilten, nahmen keine Notiz von ihm.
Bald waren sein Gesicht und seine Hände vor Kälte ganz starr. Dennoch rührte er sich nicht. Der schräg fallende Regen durchnäßte langsam seine Kleidung.
Die Nacht schleppte sich dahin. Die Uhr schlug immer und immer wieder die Stunde. In den Cafés erloschen die Lichter, selbst die Bettler verließen die Arkaden. Die Stadt um ihn herum legte sich schlafen.
Alles, was jetzt noch von der Zivilisation übriggeblieben war, waren das Schlagen der Uhr und in der Ferne der schwache Schein
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