Familien Saga Bd. 3 - Zauber der Savanne
Tagen hatte er sich nicht mehr in der Kanzlei blicken lassen. Zwar hatte Dr. Schmiedel ihm großzügig Urlaub gewährt, doch seine Arbeit wurde dadurch nicht weniger. Mister Oppenheimer erwartete längst erste Berichte, und er hatte noch nicht einmal mit seinen Nachforschungen begonnen. Da die Krankenschwester ihn im Moment ohnehin nicht zu seiner Frau vorlassen würde, konnte er genauso gut die Zeit nutzen und in die Old Location gehen, um Nils für ein paar längst fällige Erkundigungen in dessen Bierschenke aufzusuchen.
*
Seit die südafrikanischen Buren 1915 Südwestafrika unter ihr Protektorat gestellt hatten, war die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen noch viel radikaler geworden. Die auf Rassentrennung fixierten weißen Südafrikaner versuchten, möglichst alle Schwarzen in sogenannten Homelands anzusiedeln, die sie nicht mehr verlassen sollten. Old Location, das auf einem Hügel westlich der Eisenbahnlinie von Windhuk lag, war das Homeland eines großen Teils der schwarzen Bevölkerung. Der Stadtteil bestand aus ärmlichen, dicht gedrängten Baracken und Hütten, die ohne jede Ordnung quer über den Hügel gebaut waren. Die selbst zusammengeschusterten Behausungen boten zum großen Teil einen erbärmlichen Eindruck. Sie waren grob zusammengezimmert und bestanden aus diversen Fundmaterialien wie Ästen, gebrauchten Brettern und Blechteilen. Im ganzen Viertel gab es keinerlei Kanalisation, sodass während der Regenzeit sämtliche Abfälle und Fäkalien durch die schmalen Lehmgassen gespült wurden. Der Dreck und die mangelnde Hygiene führten zu Krankheiten und brachten eine hohe Kindersterblichkeit mit sich. Raffael, dem immer wieder schmerzlich bewusst gemacht wurde, dass er selbst zur Hälfte schwarzes Blut in sich trug, bemühte sich in seiner wenigen Freizeit, das Leid dieser Menschen auf seine Art zu lindern. Nachdem es ihm gelungen war, das Vertrauen von Nils, einem Herero, zu gewinnen, der in der Old Location so etwas wie ein Anführer war, konnte er gemeinsam mit ihm einige Verbesserungen in dem Homeland erreichen. Nils hatte als Besitzer der wichtigsten Bierschenke einen gewissen Einfluss auf die Bewohner. Mit seiner Hilfe war es möglich gewesen, die Menschen von der Notwendigkeit zu überzeugen, Abflussrinnen zu graben, die ihren Unrat kanalisierten. Eine kleine Krankenstation am Rande, die regelmäßig von einem Arzt besucht wurde, sorgte nun auch für eine gewisse medizinische Grundversorgung der Bewohner. Dennoch blieb Old Location ein Slum und war weit davon entfernt, ein menschenwürdiger Lebensmittelpunkt zu sein. Nur wenige der Bewohner gingen einer regelmäßigen Arbeit nach. Viele schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben, andere versuchten es mit Betteln oder durchsuchten die Müllkippen nach Brauchbarem, das sie dann für wenige Münzen verscherbelten. Alkohol und Gewalttätigkeiten waren ebenso ein Problem wie die Prostitution. Auch bei gewissen Weißen war bekannt, dass man für ein geringes Entgelt hier beinahe jede sexuelle Perversion kaufen konnte.
Nils’ Bierschenke lag im Herzen der Old Location. Der schmale, lange Flachdachbau war als eines der wenigen Gebäude im Slum aus Lehmziegeln errichtet und sogar weiß getüncht. An seiner Wand stand in ungelenken grünen Buchstaben » Forget your life, drink beer!« – ein Wahlspruch, der dem Lebensmotto der meisten Bewohner entsprach. Raffael betrat den fensterlosen Raum und entdeckte Nils mit drei Männern im Gespräch. Die Diskussion war ziemlich laut, brach aber schlagartig ab, als sie ihn bemerkten. Einer der Männer wickelte schnell etwas in ein schmutziges Tuch und steckte es zurück in seine Tasche. Die anderen warfen ihm unterdessen feindselige Blicke zu. Nur Nils lachte und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. » Du warst lange nicht hier, alter Freund!« Er verließ die Männer und gesellte sich zu ihm.
» Bier?«
Raffael nickte und sah Nils zu, wie er eine braune Flasche aus einer Holzkiste hinter dem Tresen zog und sie ihm ungeöffnet zuschob. Raffael schnappte den Verschluss zurück und trank einen großen Schluck, ohne dabei den Flaschenrand zu berühren.
» Ich habe die Flasche vorher abgeputzt«, meinte Nils fast beleidigt. » Bei mir ist noch keiner krank geworden.«
» Es ist eben eine alte Gewohnheit«, meinte Raffael achselzuckend. » Wie geht es Mathilde und den Kindern?« Nils lachte gequält. » Mathilde ist schon wieder schwanger und will im Moment nichts mit mir zu tun haben. Ich wohne
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