Familienalbum
Mum hat mich ausdruckslos angestarrt: »Ich kann dir nicht ganz folgen, Schatz.« Dafür folgte mir Ingrid auf der anderen Seite des Tischs umso besser, ebenfalls mit steinernem Gesicht, aber das ist nun mal ihre Art. Schließlich musste ich mit der Sprache rausrücken und habe ein Bündel Broschüren mit hübschen Cottages usw. geschwenkt. Mum war erst ungläubig, dann empört: »Ich fasse es nicht, was du da anzudeuten scheinst … wie kannst du nur an so was denken! Allersmead verkaufen ! Woanders leben!« Die Finanzprobleme wurden leichthin abgetan: »Geld spielt doch keine Rolle, was zählt, ist euer Zuhause , und Allersmead ist immer …« Ich weiß, ich weiß, sage ich; ich verstehe, ich verstehe, aber … Aber, aber. Leider spielt Geld doch eine Rolle. Ich versuche es ihr zu erklären, lege ein paar Zahlen auf den Tisch und werde offensichtlich mit schlitzohrigen, fiesen, geldgeilen Bankern in eine Schublade gesteckt: »Ich hatte keine Ahnung, dass du so hart sein kannst, Gina.« Ingrid blättert inzwischen auf der anderen Seite des Tischs ganz nebenbei die Broschüren mit den hübschen Cottages durch – vielleicht auch nicht so ganz nebenbei. Ich habe beschlossen, ich lasse es vorerst gut sein – habe die Sprache auf etwas anderes gebracht, Kaffee getrunken und Walnusskuchen gegessen, mein Image wieder aufzupolieren versucht, von Ingrid eine Tüte mit Gemüse in Empfang genommen und bin aufgebrochen. Die Cottage-Broschüren habe ich in strategischer Absicht »vergessen«.
E-MAIL – INGRID AN GINA
Diese Woche schauen wir uns Häuser an. Alison sagt, das heißt nicht, dass sie irgendwelche Absichten hätte, aber anschauen schadet ja nicht. Manche von den Fotos haben ihr recht gut gefallen.
E-MAIL – ALISON AN GINA, SANDRA, KATIE, ROGER, CLARE
Dieses Ding, das sich Loft nennt, war unmöglich. Die Arbeitsfläche in der Küche war aus Granit . Granit ist was für Berge, oder? Nicht für Küchenflächen. Und in allen Zimmern eine grelle Beleuchtung wie auf der Bühne. Ingrid meint, wir würden verrückt werden. Das Haus an der High Street war ziemlich winzig, die Küche ungeeignet für die Kochkurse. Ingrid meint, wahrscheinlich müssen wir überall einen Küchenanbau ins Auge fassen. Aber das Cottage in Hopton hat eine große, und Ingrid gefällt der Garten. In der Küche steht ein Aga. Ich hab mich schon immer gefragt, was an einem Aga wohl dran ist. Die Leute schwören anscheinend darauf.
E-MAIL – ROGER AN GINA
Wenn der geforderte Preis für das Cottage in Hopton vernünftig ist, mach sofort ein Angebot.
E-MAIL – INGRID AN GINA, SANDRA, KATIE, ROGER, CLARE
Gut, dass sie akzeptiert haben. Alison meint, der Küchentisch wird gerade so reinpassen, vielleicht auch die Anrichte. Die Wohnzimmervorhänge sind so alt, dass es sich nicht lohnt, sie mitzunehmen. Ich werde neue nähen. Alison meint, rosa geblümt wäre vielleicht hübsch. Wir werden einen Mann mit Bodenfräse brauchen, um ein neues Spargelbeet anzulegen. Alison meint, ich könnte für mein Obst solche neuartigen Schutzgehäuse gegen Vogelfraß haben.
E-MAIL – CLARE AN GINA, SANDRA, KATIE, ROGER
Hallo, ihr alle – ist das nicht total schräg? Eure Mum und meine landen jetzt allein miteinander in einer Lebensgemeinschaft! Okay, ich weiß, wir sprechen das nie laut aus, eure Mum und meine, wir reden nie über das Thema. Deshalb tu ich’s jetzt, vielleicht wird’s allmählich Zeit. Eure Mum und meine. Richten sich gemütlich in einem Cottage ein, mit Aga-Herd und Spargelbeet. Ohne unseren Dad, und natürlich hat er das alles angerichtet, worüber wir auch nicht reden, nie geredet haben. Aber jetzt erfahrt ihr – mit ein paar Jahren Verspätung –, wie ich die Sache sehe.
Ich bin ziemlich froh, dass es mich gibt, deshalb kann ich ihm kaum Vorwürfe machen. Oder meiner Mum. Eure hatte allen Grund zur Klage. Meine übrigens auch. Ich glaube, er hätte es nicht tun sollen, aber dann wäre ich nicht hier, und das ist ein so abwegiger Gedanke, dass ich ihn nicht weiterverfolgen kann. Theoretisch hätte er es nicht tun sollen – aber wer weiß, wie die Umstände damals für ihn waren? Wir haben doch keine Ahnung, oder? Ich begreife meine Mum nicht. Warum hat sie …? Und wenn schon, warum ist sie geblieben, und wie war das für sie? Ich habe wohl alle möglichen skandinavischen Verwandten, aber die interessieren mich nicht besonders. Wir haben nie darüber geredet, sie und ich. Sie weiß, dass ich es weiß – dass wir alle es wissen –,
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