Familienalbum
vor mir. Gina mit einem anderen Mann, und natürlich musste Charles sofort eine Diskussion mit ihm anfangen – er hat ja nicht mehr oft Gelegenheit dazu. Ich wollte gar nicht erst fragen, was aus David geworden war; Gina hatte noch nie etwas für vertrauliche Gespräche übrig. Rogers Frau ist natürlich reizend – ich habe ihr Waffelrezept ausprobiert, und sie will mir noch ein paar andere Rezepte mailen. Man gewöhnt sich völlig an dieses chinesische Aussehen, auch wenn es einem anfangs merkwürdig vorkommt und man nicht erwartet, dass sie ein solches Englisch spricht, mit einem kanadischen Akzent. Katie haben wir seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber sie meint, nächstes Jahr fliegen sie vielleicht mal rüber. Clare kam mir das letzte Mal fast wie eine Ausländerin vor, irgendwie dachte ich, gleich redet sie Französisch oder so. Und Sandra ist natürlich sehr elegant, das war sie ja schon immer, sogar in ihrer Schuluniform – und die Geschenke , die sie mitbringt, fabelhafte Delikatessen und Seidenschals, die ich nicht tragen kann, aber Ingrid trägt sie manchmal.
Charles ist schwierig geworden, aber einfach war er ja nie, die halbe Zeit ging man wie auf rohen Eiern. Jetzt ist er auf eine andere Art schwierig, nicht mehr so reizbar und abgekapselt wie früher, sondern eher nervös, schreckhaft; er kann es nicht ertragen, wenn der Hund bellt, und wirkt manchmal so gealtert . Er hat sich angewöhnt, beim Treppensteigen auf halber Höhe eine Pause zu machen und sich aufs Fensterbrett zu setzen, und dauernd legt er sich die Hand auf die Brust. Natürlich fehlt ihm nichts, Charles war immer von robuster Gesundheit, das ist nur so ein Tick von ihm. Außerdem trinkt er wieder, in seinem Arbeitszimmer, das hat er seit Jahren nicht mehr getan.
Stimmen
Charles ist am Schreiben. Es geht ihm heute gar nicht so schlecht, deshalb kommen auch die Gedanken, die Worte. Er hat ein anfallsartiges Synchronizitätserlebnis, als sein Blick die Bücherregale entlangschweift und auf Namen fällt: Carlyle, Freud, Browne, Shelley, Stendhal, Malinowski … alle diese Toten, die so gar nichts miteinander zu tun haben, aber Schulter an Schulter stehen und immer noch gegenwärtig sind, weil er sie wahrnimmt. Alles – und jeder – dauert fort, gleichzeitig. Diese Vorstellung hat ihn immer gefesselt. Einst dachte er, das könnte das Thema seines Magnum Opus sein, aber er bekam es nie richtig zu fassen, konnte nie genug Material sammeln, deshalb ist das Magnum Opus nie entstanden, weder in dieser noch in einer anderen Form.
Er ahnt, dass es nie zustande kommen wird. Er ist sich dessen sogar sicher. Kein Grund, nicht ein paar Gedanken zu Papier zu bringen, an einem der besseren Tage, solange es die noch gibt.
Also schreibt er.
»Thomas Carlyle starb im Jahr (Datum nachschlagen); (Vornamen nachschlagen) Malinowski starb im Jahr (Datum nachschlagen). Diese Männer lebten in weiter räumlicher Entfernung, zu verschiedenen Zeiten, die Themen, die ihren Intellekt beschäftigten, standen in keinerlei Beziehung zueinander, dennoch existieren sie in posthumer Synchronizität weiter – sie gehören beide zu meinem geistigen Mobiliar. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich einen Baum, den ich als Stechpalme kenne (botanischen Namen nachschlagen). Dieser Baum stammt aus dem mediterranen Raum und wurde von Vergil erwähnt (Beleg nachschlagen), der sich nun ebenfalls zur Schar der Geister gesellt, die sich im Jahr 2008 im Raum eines englischen Hauses versammeln. Aber das Haus stammt nicht aus dem Jahr 2008 – Ziegel und Mörtel, das Buntglas, der Marmorboden in der Eingangshalle reichen in die Neunzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts zurück und fügen damit ein weiteres Element der Verschiebung und Synchronizität hinzu.«
Charles hört auf zu schreiben, etwas lenkt ihn ab, eine unmittelbarere Sorge.
E-MAIL – GINA AN ROGER
Herzinfarkt. Offensichtlich ist er nie zum Arzt gegangen. Nun – ein plötzlicher Tod ist wohl die beste Art zu sterben. Ich war heute Vormittag dort. Mum ist ein bisschen aus der Bahn geworfen, Ingrid und Paul regeln alles. Beisetzung am Dienstag. Ich weiß, dass du dich nicht so leicht loseisen kannst – wir haben volles Verständnis.
E-MAIL – SANDRA AN GINA
Selbstverständlich komme ich.
E-MAIL – CLARE AN GINA
An diesem Abend ist Vorstellung, aber jemand springt ein – ist nur üblich, wenn es um Leben oder Tod geht, aber das tut es ja. Love.
E-MAIL – KATIE AN GINA
Ankunft Montagabend in Heathrow.
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