Familienbande
meinen.«
Für Dr. Magrew und Mr. Bullstrode war diese Frage schwer zu beantworten. Zum einen waren beide sehr betrunken, zum anderen hatte sich in letzter Zeit so viel ereignet, daß ihnen manchmal entfiel, daß der alte Mr. Flawse, wenn auch ausgestopft, offenbar immer noch einen eigenen Kopf hatte. Sie saßen da und starrten dieses sich bewegende Mémento mori sprachlos an. In der Annahme, sie seien noch halb taub, drehte Lockhart am Lautstärkeregler, und Mr. Flawses Stimme hallte mächtig durch den Raum.
»Mir ist gleich, welches Argument Ihr benutzt, Magrew«, schrie er, »ich lasse mir nicht weismachen, man könne den Charakter einer Nation oder eines Menschen verändern, indem man an seinen Umwelt- und sozialen Bedingungen herumpfuscht. Was wir sind, sind wir aufgrund der überragenden Bedeutung von Geburt und uralten Sitten, jenem großartigen Konglomerat aus unserem angeborenen und überlieferten Erbe. Beide sind miteinander verwoben. Was früher Richter verkündeten, wenden wir heute an; es ist gängiges Gesetz; und was, durch die Chemie festgelegt, unsere Zellen formt, wird zum Menschen schlechthin. Stimmen Sie dem nicht zu, Mr. Bullstrode, Sir?«
Mr. Bullstrode nickte, unfähig, ein Wort hervorzubringen.
»Und doch«, fuhr Mr. Flawse mit zehn Watt pro Kanal fort, »und doch haben wir es mit dem Paradoxon zu tun, daß sich das, was man ‹englisch¤ nennt, von Jahrhundert zu Jahrhundert ändert. Eine wenn auch seltsame, so doch konstante Unbeständigkeit ist dies, die Menschen gleich beläßt und doch ihr Verhalten und ihre Auffassung von ihnen trennt. Zu Cromwells Zeiten führten religiöse Kontroversen aufs Schlachtfeld; ein Jahrhundert später, zur Zeit Chathams, erlebte man die Eroberung eines Reiches und den Verlust Amerikas, doch der Glaube hatte das Schlachtfeld verlassen, noch vor dem uhrwerkartigen Modell des Universums und bevor Franzosen ein Lexikon diderotierten. Wißt ihr, was Sully schrieb? Daß die Engländer ihre Vergnügungen traurigerweise ihrem Lande gemäß wählen. Ein Jahrhundert später behauptete Voltaire, dieser verehrte persifleur Frankreichs, daß wir im großen und ganzen ein überaus ernstes und trübes Temperament besitzen. Wo ist also der Einfluß aller aus dem sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert stammenden Vorstellungen auf die Engländer geblieben? Nicht, daß mich interessiert, was die Franzosen von uns halten; ihre Beobachtungen stehen nicht mit den meinigen in Einklang; oder mit meiner Lektüre, wenn ich‘s recht bedenke. Für mich bleibt dies nichtsdestotrotz das fröhliche alte England, und was haben die Franzosen auf zuweisen, das an einen Sterne, einen Smollett oder auch nur einen Surtees heranreicht? Daß das französische Pendant eines Jorrocks auf die Fuchsjagd reitet, muß ich erst noch erleben. Bei ihnen machen Scherze und Neckereien den Witz aus. Wir dagegen müssen immerzu handeln, und den Kampf zwischen unseren Worten und unserem Sein haben sie auf der anderen Seite des Ärmelkanals Heuchelei genannt. Und unser Sein ist mit fremdem Blut und Flüchtlingen vor der Tyrannei vermischt, einer Wurst gleich, die in dem Topf kocht, den wir die Britischen Inseln nennen. So war‘s schon immer; so wird es immer bleiben; eine heruntergekommene Rasse von Lumpen, von fliehenden Piraten gezeugt. Was sagt Ihr dazu, Magrew, der Ihr einen gewissen Bezug zu Hume habt?«
Doch wie Mr. Bullstrode hatte Dr. Magrew nichts zu sagen. Er schwieg angesichts dieses Popanzes aus der Vergangenheit, der als Parodie seines eigenen komplexen Ichs Worte von sich gab. Der Doktor hielt Maulaffen feil, und während er dies tat, wurde die Stimme des Alten noch lauter. Sie klang nun wutentbrannt, und Lockhart, der an der Fernbedienung hantierte, mußte feststellen, daß nichts diese Stimme dämpfen konnte.
»Irgendein verfluchter Verse schmiedender Lump von Amerikaner hat gesagt«, grölte Mr. Flawse, »daß wir mit Gewimmer abtreten werden, nicht mit einem Knall. Dieser Kreatur wäre es besser bekommen, wenn sie mit Whymper zusammen das Matterhorn bestiegen und die Bedeutung des Wortes Fall kennengelernt hätte. Nun, nicht mit mir. Verflucht sei das Gewimmer, Sir, und die Zumutung, mit dem Hut in der Hand der winselnde Bettler der Welt zu sein. Ich habe kein Stirnhaar zum Berühren übrig, und wenn ich‘s hätte, würde ich keinen Finger an letzteres heben, um einem ausländischen Laffen ein paar Pennies zu entlocken, sei es ein arabischer Scheich oder der Kaiser von Japan. Ich bin ein
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