Familienbande
Jugend im Umlauf waren. Die Briten waren die herausragendsten Lebewesen, die Gott und Natur je geschaffen hatten, das Empire immer noch das größte Weltreich, das es je gegeben hatte. In Calais fingen die Kaffern an, und Sex war zwar zwecks Fortpflanzung notwendig, aber ansonsten tabu und generell ekelhaft. Daß es seit geraumer Zeit kein Empire mehr gab und die Kaffern schon lange nicht mehr in Calais anfingen, sondern den Spieß umgekehrt hatten und zahlreich in Dover landeten, wurde von Mr. Flawse ignoriert. Er abonnierte keine Zeitung und nahm den Umstand, daß es in Flawse Hall keine Elektrizität gab, zum Vorwand, kein Transistorradio im Haus zu dulden, geschweige denn ein Fernsehgerät. Sex hingegen konnte er nicht ignorieren. Noch mit neunzig nagten seiner Exzesse wegen Schuldgefühle an ihm, und daß diese sich, ähnlich wie das Empire, weitgehend aus der Realität in die Phantasie verflüchtigt hatten, machte die Angelegenheit nur noch schlimmer. Im Geiste blieb Mr. Flawse ein lasterhafter Mensch, der eine rigorose Lebensweise beibehielt, bestehend aus kalten Bädern und langen Spaziergängen, um den Körper abzuhärten und die Seele zu kasteien. Außerdem ging er Jagen, Fischen und Schießen und ermunterte seinen unehelichen Enkel eindringlich, diese gesunden Freiluftbetätigungen auszuüben, bis Lockhart mit einem 303er Lee-Enfield-Gewehr aus dem 1. Weltkrieg einen laufenden Hasen auf 450 Meter und mit einer 22er ein Moorhuhn auf hundert erlegte. Mit siebzehn hatte Lockhart die Fauna der Flawse-Hochebene und die Fische im Fluß North Teen bereits soweit dezimiert, daß es selbst den Füchsen, denen der relativ schmerzlose Tod durch Gewehrschuß mit Bedacht erspart blieb, damit sie von Jagdhunden gehetzt und in Stücke gerissen wurden, schwerfiel, über die Runden zu kommen, so daß sie lieber ihre Zelte abbrachen und sich in weniger aufreibende Moorgebiete verzogen. Weitestgehend war es auf diese Abwanderung zurückzuführen, die zeitlich mit der Abreise seiner letzten und begehrenswertesten Haushälterin zusammenfiel, daß der alte Mr. Flawse, als er zu sehr der Portweinflasche und der literarischen Gesellschaft Carlyles zugesprochen hatte, von seinem Hausarzt Dr. Magrew den Rat bekam, eine Urlaubsreise zu unternehmen. Unterstützung fand der Arzt bei Mr. Flawses Rechtsanwalt Mr. Bullstrode auf einer der monatlichen Abendgesellschaften, die der alte Mann seit dreißig Jahren gab, und die ihm als Forum für lautstarke Dispute über Fragen ewiger, metaphysischer, biologischer und allgemein beleidigender Natur dienten. Diese Dinners waren sein Ersatz für den Kirchenbesuch, die anschließenden Streitgespräche für ihn eine Art Ersatzreligion.
»Verflucht will ich sein, wenn ich so was mache«, hatte er festgestellt, als Dr. Magrew zum erstenmal das Gespräch auf eine Reise brachte. »Und der Trottel, der behauptet hat, nichts gehe über eine Luftveränderung, lebte nicht in diesem finsteren Jahrhundert.«
Dr. Magrew genehmigte sich noch etwas Port. »Ohne Haushälterin und in Ihrem ungeheizten Haus können Sie nicht erwarten, noch einen Winter zu überleben.«
»Dodd und der Bastard kümmern sich um mich. Und das Haus ist nicht ungeheizt. Im Stollen von Slimeburn liegt Kohle, die Dodd fördert. Der Bastard übernimmt das Kochen.«
»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte Dr. Magrew, der den Verdacht hegte, daß Lockhart ihr Abendessen gekocht hatte, »Ihre Verdauung wird die Belastung nicht aushalten, und Sie können nicht erwarten, den Jungen ewig hier oben einzupferchen. Es wird Zeit, daß er etwas von der Welt sieht.«
»Erst muß ich herausfinden, wer sein Vater ist«, polterte Mr. Flawse los. »Und sobald ich es weiß, werde ich das Schwein bis auf einen Zoll an sein Leben peitschen.«
»Wenn Sie nicht auf uns hören, werden Sie niemanden mehr auspeitschen können«, konstatierte Dr. Magrew. »Meinen Sie nicht auch, Bullstrode?«
»Als Ihr Freund und Rechtsberater«, erklärte der im Kerzenlicht glühende Mr. Bullstrode, »muß ich sagen, daß ich das vorzeitige Ende dieser angenehmen Zusammenkünfte aufgrund einer halsstarrigen Mißachtung klimatischer Gegebenheiten sowie unseres Rates bedauern würde. Sie sind kein junger Mann mehr, und die Frage Ihres Testaments ...«
»Scheiß auf mein Testament, Sir«, sagte der alte Mr. Flawse. »Wenn ich weiß, wem ich mein Geld vermache, setze ich ein Testament auf, vorher nicht. Und wie lautet der Rat, den Sie so bereitwillig anbieten?«
»Unternehmen Sie
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