Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
Zentimeter langer Klinge. Blutverschmiert. Zu seinen Füßen lag bäuchlings eine Krankenschwester, die sich nicht mehr rührte. Und direkt daneben, zum Greifen nahe, befand sich Kellers Dienstwaffe.
»Messer fallen lassen!«, schrie einer der beiden Polizisten, die Keller flankierten. Er selbst rappelte sich eilends wieder auf.
Der Amokläufer reagierte nicht.
»Lassen Sie sofort die Waffe fallen, oder ich schieße!«, wiederholte der Polizist seine Aufforderung laut und aggressiv. Auch sein Kollege entsicherte jetzt seine Pistole.
Der Mann mit dem Messer blieb wie angewurzelt stehen und sah sie mit starrem Blick an.
»Letzte Aufforderung: Waffe fallen lassen!« Der Beamte zu Kellers Linken hob seine Pistole nach oben und gab einen Warnschuss in die Decke ab. Dieser zerfetzte eine Neonröhre, die mit einem scharfen Knall platzte. Es regnete Splitter.
Erschreckt ging der Amokläufer in die Knie. Nun brauchte er nur noch nach der am Boden liegenden Pistole greifen, durchfuhr es Keller.
Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Jede Sekunde zählte! Mit einem Satz sprang er nach vorn, warf sich auf die Dienstwaffe und versetzte dem Messermann einen kräftigen Faustschlag aufs Knie. Der Mann stieß einen gequälten Laut aus, fiel zurück und ließ das Messer fallen.
Im nächsten Moment stürzten sich die beiden Polizisten auf ihn. Mit Gewalt kreuzten sie die Hände des Amokläufers hinter seinem Rücken und legten ihm Handschellen an.
»Puh, das war knapp!«, keuchte Keller und schnaufte dreimal tief durch. Er verstaute zunächst seine Waffe, bevor er den Festgenommenen mit scharfer Stimme fragte: »Wie viele Opfer gibt es? Wo sind sie?« Der Mann antwortete nicht, sondern starrte nur weiter stumm geradeaus.
Bevor Keller seine Fragen wiederholen konnte, hallten die schweren Schritte mehrerer Dutzend Stiefel durch den Gang: Das SEK marschierte an und postierte sich an allen Türen und Ecken. Warnrufe brüllend, stürmten die waldgrün gekleideten Beamten in die Operationssäle und sicherten sie ab. Aus einem der Säle rannte schreiend eine weitere Krankenschwester, dicht gefolgt von einem Mann in lindgrünem Kittel und transparenter Haube über dem Haar. Unter seinem Kinn baumelte ein abgestreifter Mundschutz. Im Gegensatz zu der panisch flüchtenden Schwester blieb der Arzt stehen. Keller registrierte sein schmal geschnittenes Gesicht und seine dunklen Augen, die sich kurz orientierten und dann auf dem am Boden liegenden Opfer haften blieben.
Der Arzt bückte sich nach der reglosen Gestalt, ertastete den Puls der Krankenschwester. Behutsam drehte er sie auf die Seite. Er zog eine Stiftlampe aus seiner Hemdtasche und öffnete mit dem Zeigefinger ein Auge der Frau. Er leuchtete hinein. Dann richtete er sich auf und rief an die Polizisten gerichtet: »Räumen Sie Saal 10 und lassen Sie mein Team kommen! Wir müssen sofort operieren!«
Keller, der keinesfalls verfrüht die Kontrolle abgeben wollte, wartete ab, bis der Messerstecher von einer ausreichenden Zahl von Beamten umgeben war und abgeführt wurde. Erst dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Arzt und fragte: »Ihr Name, Ihre Funktion?«
Der Doktor, der sich durch den Trubel um sich herum nicht stören ließ und sich wieder der am Boden Liegenden zuwandte, sagte gereizt: »Dr. Bartels, Steffen Bartels, Chirurg.« Er blickte auf und sah Keller eindringlich an. »Wenn Sie mich nicht augenblicklich meinen Job machen lassen, wird meine Mitarbeiterin vor ihren Füßen verbluten! Das haben dann Sie zu verantworten, Herr …?«
»Keller. Polizeioberrat Konrad Keller.« Er räusperte sich. »Also gut. Tun Sie, was Ihre Pflicht ist. Ich werde veranlassen, dass man Ihr Team passieren lässt.«
2
Als er den rondellartigen Einkaufskomplex betrat, hatte er kaum mehr Hoffnung, ein einigermaßen originelles Motiv für seinen Beitrag zu finden. Der CityPoint an der Breiten Gasse war sozusagen seine letzte Chance, die von ihm selbst vorgeschlagene Fotostory zu einem würdigen Abschluss zu bringen. Denn auf der Suche nach weihnachtlichen Eindrücken und Bildern jenseits aller Mainstream-Erwartungen und der üblichen Klischees blieb er auch nach zwei Stunden angestrengter Suche erfolglos. Weder der Christkindlesmarkt hatte brauchbare Bildvorlagen oder Kurzstorys abgegeben, noch die anderen stark frequentierten Anlaufpunkte der Fußgängerzone.
Nur mit Mühe gelang es Jochen Keller, seinen Fotografen zu einem letzten Versuch, dem Abstecher in die Einkaufsmeile, zu
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