Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
seiner gefesselten Hände an ein Taschentuch zu gelangen, um sich die feuchten Wangen abzutupfen. Als dies nicht gelang, reichte ihm Keller eines von seinen.
»Danke«, sagte Wollschläger. »Isabelle war ein hübsches Mädchen, aber das sagen wohl alle Väter über ihre Töchter. Sie war blitzgescheit und machte sich gut in der Schule. Sie galt als beliebt und hatte viele Freundinnen. Von größeren Krankheitsgeschichten blieb sie verschont. Bis sie dann über starkes Bauchweh klagte. Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass es der Blinddarm sein musste. Wir ließen sie ins Krankenhaus einliefern, ins Südklinikum.«
»Ich beginne zu ahnen«, merkte Keller an.
Wollschläger redete mit seiner monotonen Stimme weiter: »Die OP sei Routine und gehöre zum normalen Tagesgeschäft, wurde uns versichert. Trotzdem mussten wir vorher unterschreiben, dass wir über eventuelle Risiken aufgeklärt wurden, was wir auch taten. Und – was soll ich sagen? Die Operation ging schief. Ich weiß bis heute nicht, was genau passiert ist, aber unser kleines Mädchen, unser Sonnenschein, ist nie wieder zu sich gekommen. Sie starb an inneren Blutungen.«
»Das ist bitter.« Keller spürte, dass die Geschichte ihm nahe ging. Doch es gehörte zu seinem Job, Emotionen zu unterdrücken. »Fahren Sie bitte fort.«
»Wir wollten es nicht einfach akzeptieren, dass eine Elfjährige ihr Leben bei einer Standardoperation lässt. Wir haben Nachforschungen angestellt. Vor allem meine Frau mochte sich nicht mit dem Schicksalsschlag abfinden und forderte Gerechtigkeit. Wir strengten einen Prozess an wegen Ärztepfusch.«
»Sie verloren den Prozess, habe ich recht?«
»Ja, und auch beim zweiten und dritten Versuch.« Wollschläger strich sich abermals mit dem Taschentuch durchs Gesicht. »Meine Frau ist über diese Abfolge von Enttäuschungen und Entbehrungen hinweg zerbrochen. Sie hat das alles nicht länger verkraftet. Ich musste sie im Bezirkskrankenhaus unterbringen, in der geschlossenen Abteilung – sie ist nur noch ein seelisches Wrack.«
»Mit anderen Worten: Sie haben zunächst ihre geliebte Tochter und anschließend die Ehefrau verloren. Die Schuld dafür gaben Sie dem Personal des Südklinikums. Sie suchten nach Genugtuung für das erlittene Leid und nahmen für sich das Recht auf Selbstjustiz in Anspruch.«
Wollschläger richtete seinen Blick auf die Tischplatte. »Ja. So war es. Ich wollte, dass diejenigen, die mir die Hölle auf Erden bereitet haben, für ihre Unfähigkeit und ihre Ignoranz bluten. Ich wollte Rache nehmen dafür, dass meine Familie und mein Leben zerstört wurden.«
Keller ließ einige Sekunden verstreichen, dann räusperte er sich. »Das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, ist hierzulande nicht erlaubt, das muss Ihnen klar gewesen sein.«
»Natürlich. Vollkommen klar.«
»Dennoch haben Sie sich für diesen radikalen Schritt entschieden. Weshalb?«
»Ich sagte es bereits. Ich wollte Rache. Genugtuung. Inneren Frieden.«
»Inneren Frieden – indem Sie eine wehrlose Krankenschwester abstechen wie Mastvieh? Ist das Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit?«
»Nein«, kam es kleinlaut.
»Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht.«
»Nein«, antwortete Wollschläger lauter.
»Warum haben Sie es dann getan?«
»Wie gesagt: Ich sah keinen anderen Weg.«
Keller fuhr sich mit den Fingern über den Mund. Er ließ die eigenen Eindrücke, die er von der Festnahme Wollschlägers in Erinnerung hatte, Revue passieren. Schließlich fragte er: »Wenn Ihre Rachegelüste dermaßen groß waren, dass Sie auf eine Schwester losgingen, warum haben Sie sich dann nicht auch die Ärzte vorgenommen? Denn die sind es doch in erster Linie gewesen, die die Operation an Ihrer Tochter zu verantworten hatten, oder?«
Wollschläger hielt den Blick gesenkt. Er schluckte schwer, bevor er antwortete: »Die Frau ist die erste gewesen, die mir über den Weg lief. Ich habe sie vor dem OP-Saal gesehen, das Messer gezogen und … danach … danach fehlte mir die Kraft, um weiterzumachen.«
Keller sah den in sich zusammengesunkenen Mann nachdenklich an. Eine traurige Gestalt. Ein Attentäter und Verbrecher, keine Frage, aber auch die Verkörperung eines tragischen Schicksals. Er wollte die Befragung gerade fortsetzen, als er durch ein Klopfen aus dem Konzept gebracht wurde. Jasmin Stahl stand in der Tür und winkte ihn zu sich.
»Ja?«, fragte er die junge Kommissarin, als er den Verhörraum verlassen hatte. »Was gibt es so Wichtiges?«
»Die
Weitere Kostenlose Bücher