Familientherapie ohne Familie
Paradoxon wieder aufzuheben. So lautete dann auch der Titel des 1975 in Italien erschienenen Buches Paradoxon und Gegenparadoxon 2 . Die beschriebenen Interventionen waren insofern paradox, als sie der primären (naiven) Erwartung widersprachen. So wurde zum Beispiel jemandem geraten, sein Symptom nicht aufzugeben, da es aus bestimmten Gründen in seinem Leben jetzt eine sehr wichtige Funktion einnehme. Falls er es dennoch tue, müsse er mit diesen oder jenen Folgen rechnen. Beispielsweise wurde einem magersüchtigen Mädchen geraten, vorerst nicht zuzunehmen, ja es wurde für seine Leistung des Hungerns geradezu gelobt, da es dadurch sehr viel für den Familienzusammenhalt tun würde. Wenn sie zum jetzigen Zeitpunkt wieder äße, müsse man tatsächlich vermuten, dass etwas Schlimmes passieren könne. Deshalb müsse sie sich eben noch eine Weile für die Familie opfern.
Diese paradoxen Interventionen (in diesem Fall eine positive Konnotation) wurden geradezu zum Markenzeichen des Mailänder Modells. Paradoxe Interventionen erfreuten sich in der Folgezeit bei vielen Therapeuten sehr großer Beliebtheit. Manchmal wurde bei der Anwendung der neuen Technik aber übersehen, dass nicht die paradoxe Intervention an sich das Entscheidende war, sondern das systemische Verständnis der Beschwerden. Systemisches Verständnis kann bedeuten, den positiven oder funktionalen Aspekt eines Symptoms
hervorzuheben, muss es aber nicht. Mittlerweile – das sei hier schon erwähnt – erfreut sich das Wort »paradox« weit weniger großer Beliebtheit. Zum einen, weil die Faszination durch das Paradoxe einer weiteren systemischen Sicht gewichen ist, zum anderen, weil das, was früher »paradox« erschien, vielen Therapeuten heute primär plausibel ist, ohne jeden paradoxen Beigeschmack.
Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Weiterentwicklung der Theorie durch das Mailänder Team in der Mitte der 70er-Jahre. Gregory Batesons Buch Ökologie des Geistes 3 übte einen neuen Einfluss auf die Gruppe aus. Man begann, den Gegensatz von Homöostase und Entwicklung neu zu sehen. Systeme, so war die neue Erkenntnis, entwickeln sich beständig, und Stabilität sei nur eine Illusion. – So wie ein Fluss immer der Gleiche zu sein scheint und doch aus immer neuem Wasser besteht. Damit er besteht, muss er täglich neu geschaffen werden. So existiert die Stabilität der Phänomene nur in unserer Vorstellung und ist kein Merkmal der Wirklichkeit. Oder, um Batesons Metapher zu verwenden, die zur Losung der neuen Einsicht wurde: Die Landkarte ist nicht das Gleiche wie die Landschaft.
Die »innere Landkarte« eines jeden Familienmitgliedes wurde nun sorgfältig von der Ebene der Handlung getrennt.
Ebenso große Aufmerksamkeit wurde dem Kontext gewidmet, in dem eine bestimmte Handlung steht. Wie die Zeilen in diesem Buch nur Sinn gewinnen durch den Kontext, in dem sie stehen – die Seiten, das Kapitel, das Buch -, so hat ein bestimmtes Verhalten nur in einem sozialen Kontext seinen Sinn und nicht alleine aus sich heraus. Für jede Kommunikation bedarf es deshalb der Einigung über den Kontext (Kontextmarkierung), sonst entstehen zwangsläufig Missverständnisse. 4
Bezüglich der Therapie bedeutete das gleichfalls eine Änderung. Interventionen waren nun häufiger auf die Veränderung der inneren Landkarte gerichtet statt auf die Veränderung der Realität selbst. Das Letztere würde dann aus dem Ersten folgen.
Allein die Annahme, dass Veränderung das Unvermeidbare ist und Stabilität nur mit einigem Aufwand aufrechterhalten werden kann, veränderte auch die Interventionen. Der Therapeut brauchte nun nicht mehr das Gefühl zu haben, gegen eine Übermacht der Beharrungstendenzen die Herkulesarbeit der Veränderung allein zu erledigen. Die Macht der Veränderung war sowieso auf seiner Seite, es galt lediglich, sie zu kanalisieren. So wurden die Interventionen weniger aufwendig, häufiger auf kleinere Veränderungen der Wertung von Symptomen gerichtet, die dann alleine andere Änderungen nach sich ziehen würden.
Nach 1980 trennte sich die Mailänder Gruppe. Während Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo sich mehr mit Ausbildungsfragen beschäftigten, entwickelten Mara Selvini Palazzoli und Giuliana Prata weitere Interventionstechniken. Dabei kamen sie unter anderem auf die sogenannte invariante Intervention. »Invariant« wurde sie genannt, da sie unverändert ganz verschiedenen Familien gegeben wurde. Dabei wurde den Eltern die Aufgabe
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