Familientherapie ohne Familie
Nachbesprechung.
In der Vorsitzung trafen sich die Therapeuten (derjenige, der das Interview führte und die Beobachter), um mit den vorhandenen Daten erste Hypothesen zum Symptom zu entwerfen. Sinn dieses Vorgehens waren keine diagnostischen Schnellschüsse, sondern die Konstruktion eines ersten Gerüstes, an das sich die Fragen des Therapeuten anlehnen konnten. Die »Mailänder« wiesen immer wieder auf die Gefahr hin, sich die Epistemologie der Familie zu eigen zu machen und auf diese Weise therapeutisch hilflos zu werden. (Wenn der Therapeut alles so sieht wie die Familie, wird sie sich zwar gut verstanden fühlen, der Therapeut wird ihr aber genauso wenig helfen können wie sie sich selbst.)
Kam beispielsweise eine Familie mit einem zehnjährigen Jungen als Indexpatient, der nachts einnässte, in die Praxis, so konnte eine erste Hypothese folgendermaßen aussehen: Aus dem Fragebogen war bekannt, dass der Großvater mütterlicherseits kurz vor Beginn des Symptoms verstorben war. Er wurde zuvor von der Mutter gepflegt. Der Sohn konnte nun zum Beispiel die Mutter vor der Trauer um den verstorbenen Vater schützen und sich gleichzeitig die Zuwendung von der Mutter holen, die er während der Pflege des Großvaters vermisst hatte.
Nach diesen ersten zirkulären Gedanken zur Psychodynamik der Familie konnte der Therapeut auch erste Fragen vorformulieren, die ihm in der Anfangsphase einen Leitfaden geben konnten.
Solchermaßen »gerüstet« begann nun das eigentliche Interview. Der Therapeut ließ nun erst einmal eine Phase des unstrukturierten Gespräches zu, in dem Kontakt zu den Familienmitgliedern aufgebaut wurde. Wie das gestaltet wurde, hing von der persönlichen Art jedes Therapeuten ab.
Danach richtete der Therapeut eine Reihe von Fragen an die einzelnen Mitglieder der Familie, wobei er unmerklich die vorher entworfenen Hypothesen überprüfte. Trafen sie zu,
versuchte er sie zu spezifizieren. Trafen sie nicht zu, musste er versuchen, neue Hypothesen zu entwerfen und sie dann wieder zum Ausgangspunkt neuer Fragen zu machen.
Hinter der Einwegscheibe verfolgten unterdessen die Kollegen (mindestens einer) den Verlauf des Interviews. Sie erlebten durch den äußeren Abstand das Gespräch oft anders, und sie konnten dem Interviewer zusätzliche Hinweise und Ideen während der Stunde geben. Dazu klopften sie von hinten an die Einwegscheibe und gaben damit dem Therapeuten das Signal, das Telefon im Therapiezimmer abzuheben. Nach einem kurzen telefonischen Hinweis durch die Kollegen konnte das Interview dann fortgesetzt werden.
Dem damit unvertrauten Beobachter wird das Setting erst einmal technisch und ungewohnt vorkommen – besonders wenn die Sitzung noch auf Video aufgenommen wird. Überraschenderweise akzeptierten Familien die Vorgehensweise nach kurzer Eingewöhnungsphase ohne Schwierigkeiten.
Gleichfalls ungewöhnlich war die Art des Fragens. Gemeint ist das »zirkuläre Fragen«. Zirkuläres Fragen – auch »Tratschen in Gegenwart des Betroffenen« genannt – ist eine Methode, jemanden über einen anwesenden Dritten zu befragen. Das sieht in etwa so aus:
Therapeut zur Tochter: »Wenn dein Bruder morgens ein nasses Bett hat, wie reagiert dann deine Mutter?«
Therapeut zum Sohn: »Wenn deine Mutter dann das Bettzeug aufräumt, was tut dann dein Vater? Was sagt er?«
Therapeut zur Mutter: »Wie verhält sich denn Ihre Tochter, wenn sie sieht, dass das Bett nass ist?«
Therapeut zum Vater: »Und was sagt Ihr Sohn, während Ihre Frau die Wäsche wechselt?«
Zirkuläre Fragen sollen also komplexe Handlungsabläufe deutlich machen. An der morgendlichen Szene, die hier zum Beispiel erfragt wird, sind nämlich nicht nur der Sohn und die Mutter beteiligt, sondern das Verhalten aller ist miteinander verwoben.
In der Familie erlebt jedes Mitglied die eigene Wahrnehmung als seine persönliche. Durch die zirkuläre Befragung wird jeder gezwungen, sich in Beziehung zu den anderen zu setzen und die lineare, individuelle Perspektive mit dem System in Verbindung zu bringen. Er wird in die »Familienströ mung« 8 mit eingebunden. Die Frage »Wer sorgt sich am meisten über das nasse Bett?« lässt sich nicht linear beantworten, sondern muss in Beziehungen beantwortet werden: »Die Mutter mehr als der Vater« oder ähnlich. Wenn Familien mit dieser Art des Fragens konfrontiert werden, werden sie gespannt zuhören, was der Gefragte über einen von ihnen sagen wird. Da die Fragetechnik ungewöhnlich ist, bekommen
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