Familientherapie ohne Familie
Unterlegene zu Recht unverstanden fühlen wird.
Der Therapeut mit zirkulärer Epistemologie wird das Phänomen untersuchen und Folgendes feststellen: Es ist sowohl richtig, dass auf A ➜ B folgt, genauso trifft aber auch das Umgekehrte zu (B ➜ A). Für den außen stehenden Therapeuten sieht nämlich die Angelegenheit so aus:
Herr Müller würde jeweils die einen Sequenzen wahrnehmen, Frau Müller die anderen (frei nach Paul Watzlawick u. a.) 7 .
Die zirkuläre Sichtweise hat also den Vorteil, die moralische Verurteilung zu überwinden und stattdessen eine neutrale Sichtweise einzunehmen, die die Zuschreibung von Schuld vermeidet. Schuld hat lediglich das »Spiel«, in dem beide gefangen sind. Deswegen sollte ein Therapeut oder ein therapeutisches Team stets danach trachten, ein zirkuläres Verständnis einer Familiendynamik zu erreichen, weil damit für den Therapeuten ein Verständnis ohne Schuldzuschreibung möglich wird. Meist ist dieses neue Verständnis auch auf einer höheren logischen Abstraktionsebene angesiedelt. (Sowohl Herr Müller als auch Frau Müller haben recht. Nörgeln und Rückzug sind jeweils sowohl Ausgangspunkt wie Resultat der Interaktion.)
Solch ein Verständnis ist anfänglich schwer zu erlernen. Menschen sehen stets nur Abfolgen, nie Regelkreise. Außerdem übt die Sprache eine sanfte Tyrannei aus, da sie strukturbedingt nur Abfolgen abbilden kann. Regelkreise sind vergleichsweise umständlich darstellbar. (Vergleiche: »Vater schlägt Mutter, weil er böse oder betrunken ist.« Und: »Wenn die Kinder schlechte Noten haben, ärgert sich die Mutter. Wenn sie mit den Kindern schimpft, stellt sich der Vater zwischen die Mutter und die Kinder. Wenn sich die Kinder dann Hilfe suchend an den Vater wenden, bekommen Mutter und Vater Krach. Wenn die Mutter den Vater dann an seinem schwachen Punkt angreift, schlägt er schließlich die Mutter...«.)
Regelkreise müssen also in der Sprache häufig in einer ganzen Sequenz von linearen Aussagen konstruiert werden. Um sich bei der eigenen Wahrnehmung nicht durch die sprachliche Struktur zu stark beeinflussen zu lassen und auf die Weise unfreiwillig in der linearen Wahrnehmung zu landen, kann folgender »Trick« hilfreich sein: das Ersetzen des Verbs »sein« durch das Verb »zeigen«. Statt zu sagen, der Vater ist aggressiv, sollte man bei der Hypothesenbildung sagen, der Vater zeigt aggressives Verhalten. Das mag unnatürlich
klingen, doch vermeidet die Umformulierung die Gefahr, dem Vater eine bestimmte Charaktereigenschaft zuzuschreiben und damit die Handlungsebene mit der Bedeutungsebene zu verwechseln. Mit der Formulierung »zeigt aggressives Verhalten« lenkt man auch die Aufmerksamkeit auf die nächste Frage: Wem zeigt er denn das aggressive Verhalten? Wie reagiert der Angesprochene? Usw.
Damit gelingt es dem Therapeuten, wieder jene Distanz zu halten, die im Umgang mit Familien entscheidend ist. Es gilt die Faustregel: Im gleichen Maß in der Familie zu sein wie auch außerhalb der Familie zu stehen. Ohne wirklichen Kontakt wird der Therapeut abgelehnt werden, und ohne Abstand kann kein neues Element in die familiäre Sichtweise eingehen und sich somit auch keine Änderung ergeben. – Eine Regel, die selbstverständlich auch für andere Therapieformen gilt.
Doch nun zur therapeutischen Praxis:
Die Therapie begann in Mailand schon bei der Anmeldung. Hier wurde nicht, wie sonst üblich, die Anmeldung von der Sekretärin angenommen, sondern von einem der Therapeuten, der sich für diese Gelegenheit einen Termin frei hielt. In einem kurzen Gespräch wurden verschiedene Basisdaten festgehalten: warum jemand kommt, die Anzahl der Familienmitglieder, die überweisende Person usw. Es wurde Wert darauf gelegt, sich nicht die Sichtweise des Anrufers zu eigen zu machen oder mit ihm eine unausgesprochene Koalition einzugehen. Anschließend wurden alle im Haushalt lebenden Personen zur ersten Sitzung eingeladen. (Teilweise wurden auch nur die Personen eingeladen, die dem Therapeuten für das augenblickliche Problem relevant erschienen.) Ergänzt wurden diese Daten durch einen Fragebogen und einen Bogen zu den weiteren Verwandten (unter anderem Eltern, Großeltern, Geschwister), die die Familie beim ersten Besuch vor der eigentlichen Therapiestunde ausfüllte.
Danach kam die eigentliche Sitzung, die sich in einem mittlerweile schon klassischen Setting in fünf Abschnitte gliederte:
Vorsitzung, Interview, Unterbrechung, Intervention,
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