Familientherapie ohne Familie
dabei die einzelnen Mitglieder oft Überraschendes zu hören. Manchmal wird sich derjenige, über den gesprochen wird, einmischen und direkt antworten, worauf der Therapeut ihm freundlich, aber bestimmt mitteilt, dass er ihn gleich noch fragen wird, wie seine Auffassung zu diesem Problem sei. Das wird er dann auch tun. Auf die Weise bleibt der Interviewer stets in gleichem Abstand (»Äquidistanz«) zu allen Familienmitgliedern – ohne wertendes Urteil. Zirkuläre Fragen haben somit eine Reihe von Vorteilen:
1. Durch die simultane Betrachtungsweise aus mehreren Blickwinkeln werden sie der realen Vernetzung eines Symptoms in das familiäre System gerecht, da sie geeignet sind, die komplexe Vielschichtigkeit von Beschwerden in der Therapie darzustellen.
2. Durch die neue Fragetechnik wird für alte Probleme eine neue Darstellungsweise vorgeschlagen. Durch die neue Perspektive wird verhindert, immer die gleichen Antworten auf gleiche Fragen zu erhalten. Gespannt wird ein Betroffener sich fragen: »Wie sieht denn eigentlich meine Tochter das Problem?« »Wem steht sie da näher? Mir oder meiner Frau?« Dadurch kommt Bewegung in eingefahrene Wahrnehmungsmuster.
3. Durch das zirkuläre Fragen bleibt der Untersucher neutral.
Er braucht die Neutralität nicht durch Enthaltsamkeit herstellen – im Gegenteil, er kann dadurch sehr freundlich und zugewandt im Kontakt sein. Nur wird er keine Partei ergreifen, sondern die verschiedenen Perspektiven gleichermaßen betonen. Eine Haltung, die von Ivan Boszormenyi-Nagy (1920-2007) mit dem Begriff der »Allparteilichkeit« charakterisiert wurde. 9
4. Unabhängig von den Antworten erhöht die Fragetechnik die Sensibilität für die Prozesse innerhalb der Familie, da unter anderem infrage gestellt wird, dass es nur eine Wahrheit gibt.
Die erwähnte »Allparteilichkeit« wurde im Mailänder Ansatz »Neutralität« genannt und hat noch eine Reihe von Erweiterungen erfahren. Neutralität heißt hier ebenfalls, eine nicht wertende Haltung gegenüber Einstellungen und moralischen Werten einer Familie einzunehmen – so merkwürdig sie auch für den Therapeuten selbst sein mögen. Beispielsweise bei sehr stark gebundenen Familien aus gewissen religiösen Sekten. Auch sehr wirklichkeitsferne Überzeugungen wurden nicht gewertet, sondern akzeptiert (eine Haltung, die heute in dieser reinen Form weniger eingenommen wird). Bezüglich der Technik hieß das zum Beispiel auch, die »Redezeit« der Familienmitglieder etwa gleich lang zu halten.
Der Hintergrund dieser Einstellung ist die Überzeugung, dass auch schwere Symptome immer einen optimalen Kompromiss darstellen – eine optimale Lösung bei suboptimalen Bedingungen. Eine Familie kann also unter gegebenen Umständen nicht anders sein, als sie gerade ist. Jede isolierte Veränderung oder jede isolierte Verurteilung einer Komponente der Handlungsweise ist daher aus einem systemischen Verständnis heraus kurzschlüssig. Ziel der Veränderung ist nicht das Symptom, sondern die Veränderung der Interaktion der Mitglieder eines Familiensystems untereinander – der Spielregeln sozusagen. Alle weiteren Änderungen ergeben sich daraus dann meistens von alleine. 10
Anders ausgedrückt kann man das Vorgehen auch so schildern: Die Familien kommen in die Behandlung, da sie in einer gewissen Situation mit den gewohnten Lösungstechniken nicht zurechtkommen und festgefahren sind. Das Ziel der Veränderung ist, nicht eine bestimmte Lösung, sondern eine »Metaveränderung« zu erreichen, also eine Wiederherstellung der Fähigkeit der Familie, Lösungen selbst zu finden. Ein weiteres Element, das einem Beobachter hinter dem Einwegspiegel auffällt, ist die häufige Benutzung von Skalen während eines Interviews. Der Therapeut fragt nach Unterschieden und der Reihenfolge, wie sie von verschiedenen Familienmitgliedern gesehen werden:
»Was glauben Sie, Herr X., wer ist am meisten vom Einnässen Ihres Sohnes betroffen?«
»Wer an zweiter (dritter... letzter) Stelle?«
Derartige Skalen geben mehr Informationen als die schlichte Mitteilung, dass jemand unter dem Symptom leidet. Es existiert plötzlich eine ganze Reihe von Abstufungen, von Schattierungen des Betroffenseins. Und jeder Unterschied ist – gemäß Gregory Bateson – eine neue Information (Unterschiede, die Unterschiede machen).
Dabei erhält der Therapeut nicht nur neue Informationen. Durch diese Fragen eröffnet er der Familie auch einen neuen Eindruck. »So habe ich es bisher noch
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