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Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Sperber
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EINFÜHRUNG
    Der Mann von untersetzter Statur, der Anfang des Winters 1847/48 in der belgischen Hauptstadt Brüssel in seiner ärmlich möblierten Wohnung am Schreibtisch saß und schrieb, wirkte, obwohl sich schon erste graue Strähnen in seinem dunklen Haupt- und Barthaar zeigten, noch immer jung. Seine Arbeitsweise war unstet. Wenn er mit seiner kaum entzifferbaren Linkshänderschrift eine Zeit lang etwas zu Papier gebracht hatte, brach er ab, stand auf und kreiste um seinen Schreibtisch, und wenn er sich dann wieder setzte, strich er einen Teil dessen, was er zuvor geschrieben hatte, durch und setzte von Neuem an. Zu seinem Haushalt gehörten seine Frau, die einige Jahre älter war als er, zwei kleine Töchter, ein einjähriger Sohn und eine Haushälterin (dass es nur eine war, lag an der Kluft zwischen den sozialen Ansprüchen und den finanziellen Möglichkeiten des Dienstherrn). Sie behelligten ihn nicht bei seinem geistigen Ringen, denn sie wussten, dass die Ablieferung seines Textes beim Herausgeber überfällig war, ein ständiges Problem seines literarischen Schaffens.
    Der Mann und Vater war Karl Marx, und der Text, den er längst an die Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten in London hätte schicken sollen, war die neue politische Grundsatzerklärung des Bundes, sein Kommunistisches Manifest . Dieses Manifest und das mit ihm verbundene Leben intellektueller Forschung und politischen Kampfes verwiesen in den Augen so vieler Historiker und Marx-Biographen auf einen modernen Zeitgenossen, eine Gestalt des 19. Jahrhunderts, die weit in die Zukunft geschaut und dazu beigetragen hatte, diese Zukunft im Guten wie im Bösen zu prägen. Dieses Verständnis Marxens als eines umstrittenen Zeitgenossen begegnet uns in einer der ersten Biographien über ihn, der 1936 in England erschienenen, aber immer noch sehr lesenswerten Marx-Biographie von Boris Nikolaevskij und Otto Mänchen-Helfen:
Um Karl Marx tobt seit Jahrzehnten der Streit, nie erbitterter als in unseren Tagen. Den einen ein finsterer Dämon, Erzfeind menschlicher Gesittung, Fürst des Chaos, den anderen zielklarer und geliebter Führer in eine hellere Zukunft des Menschengeschlechts, hat er das Gesicht dieser Zeit geprägt wie kein zweiter. In Rußland ist seine Lehre Staatsdoktrin, die faschistischen Länder wollen sie ausrotten; die Banknoten der chinesischen Sowjetgebiete tragen das Bild von Marx, in Deutschland hat man seine Bücher verbrannt …[ 1 ]
    Man hält Marx zugute, ein weitblickender Prophet gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen und ein Vorkämpfer der emanzipatorischen Umwandlung von Staat und Gesellschaft zu sein. Andererseits lastet man ihm eine Mitverantwortung für die bösartigsten, übelsten Entwicklungen der modernen Welt an.
    Wie das Zitat aus dem Buch von Nikolaevskij und Mänchen-Helfen andeutet, waren diese sehr gegensätzlichen Meinungen über Marx ein Ausdruck der das 20. Jahrhundert bestimmenden Konflikte zwischen kommunistischen Regimes auf der einen und ihren teils totalitären, teils demokratischen Gegnern auf der anderen Seite. Diese Auffassung von Marx als einem Zeitgenossen von uns hat sogar das Ende der meisten kommunistischen Regime 1989 überdauert. Den 150. Jahrestag des Erscheinens des Kommunistischen Manifests 1998 nahm man vielfach zum Anlass, Marx als einen Propheten der Konsumgesellschaft zu bezeichnen; der bedeutende Historiker Eric Hobsbawm meinte, Marx und Engels hätten in ihrer Abhandlung von 1848 das Zeitalter des globalisierten Kapitalismus vorhergesehen. Dass Hobsbawm als Marxist die fortgesetzte Geltung der Ideen unterstrich, die er sein Leben lang unterstützt hat, war eigentlich zu erwarten. Doch die über jeden Verdacht kommunistischer Neigungen erhabene Londoner Times brachte während der globalen Wirtschaftskrise im Herbst 2008 die auf Marx bezogene reißerische Schlagzeile «Er ist wieder da!». Eine Photographie zeigte Nicolas Sarkozy, den rechten Präsidenten Frankreichs, beim Blättern im Kapital . Marxens Status als Zeitgenosse ist offenbar sehr langlebig.[ 2 ]
    Hier scheint die Frage angebracht zu sein, wie Karl Marx, der nicht über die magischen Qualitäten eines Zauberers verfügte, 150 oder 160 Jahre in die Zukunft schauen konnte. Liest man das Kommunistische Manifest genauer, das die Vision einer Wiederholung der Französischen Revolution von 1789 entfaltet, immer wieder auf die Theorien der politischen Ökonomen des frühen 19. Jahrhunderts zurückgreift,

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