Fantasien der Nacht
machte die Angst und Verwirrung selbst für ihn fühlbar.
Er verspürte ihr Bedürfnis wie einen Widerhaken, der durch sein Herz ging und an ihm zog. Doch er zögerte. Irgendein übernatürlicher Instinkt warnte ihn, nicht voreilig zu handeln. Ihre nächtlichen Rufe weckten kein Gefühl von bevorstehender Gefahr in ihm. Der Grund dafür schienen weder körperliche Schwäche noch ein lebensbedrohlicher Unfall zu sein. Aber was war es dann?
Schon allein die Tatsache, dass sie ihn zu rufen vermochte, war unglaublich. Kein gewöhnlicher Mensch war in der Lage, einen Vampir zu rufen. Es verblüffte ihn, dass irgendetwas anderes als eine tödliche Gefahr ihn aus seinem todesähnlichen Schlaf wecken konnte. Es verlangte ihn danach, zu ihr zu gehen, um ihr die Fragen zu stellen, die ihn quälten. Doch er zögerte.
Vor langer Zeit hatte er diesem Ort den Rücken gekehrt und sich geschworen, das Mädchen um ihres eigenen Schutzes willen in Ruhe zu lassen. Er hatte gehofft, dass die unfassbare psychische Verbindung zwischen ihnen mit Zeit und Distanz nachlassen würde. Doch offensichtlich war dies nicht der Fall.
Er entspannte sich eine Stunde lang in der Behaglichkeit seines Unterschlupfs. Mit dem endgültigen Untergehen der Sonne kam der ihm vertraute Energierausch. Seine Sinne verdichteten sich zur tödlichen Schärfe einer frisch geschliffenen Klinge. Sein Leib prickelte vom Gefühl von Millionen Nadelstichen auf der Haut.
Eric zog sich an und öffnete dann die Vielzahl der Schlösser an der schweren Tür. Er bewegte sich lautlos durch den pechschwarzen Flur und drückte am Ende des Gangs gegen eine schwere Steinplatte, die leicht und ohne protestierendes Knarren nach innen aufschwang. Durch die Öffnung trat er in einen auf den ersten Blick ganz gewöhnlichen Keller. Von dieser Seite sah die Tür aus wie ein gut bestücktes Weinregal. Er drückte sie behutsam wieder zu und stieg die Treppe hinauf, die zum Haupthaus führte.
Er musste sie sehen. Er wusste es schon seit einiger Zeit, doch bislang hatte er dieses Wissen erfolgreich verdrängt. Ihre Anziehungskraft war zu stark, um ihr zu widerstehen. Wenn ihre süße, gequälte Stimme in den samtigen Schoß seiner Ruhe drang, spürte er ihre Qual. Er musste wissen, was ihr derartige Sorgen bereitete. Er trat in den Salon, ging hinüber zu dem hohen Fenster und öffnete die Vorhänge.
Der DPI-Lieferwagen stand gegenüber dem Eingangstor, wie jede Nacht in den vergangenen zwei Monaten. Ein weiterer Grund, warum er auf der Hut sein musste! Die Abteilung hatte vor über hundert Jahren als eine Gruppe von frommen Schwachköpfen ihren Anfang genommen, die die Zerstörung von all jenem im Sinn hatten, was sie nicht verstanden.
Es gab Gerüchte, dass sie nun unter dem Dach der CIA operierten, was sie zu einer Bedrohung machte, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Nach Erics Informationen besaßen sie ein Bürogebäude in White Plains. Man sagte, dass sie überall in den USA und sogar in Europa Agenten hatten. Der Agent da draußen schien Eric zu seiner persönlichen Obsession erkoren zu haben. Als wäre das Eingangstor der einzige Weg hinaus, parkte er dort jeden Abend, sobald es dunkel wurde, und blieb, bis der neue Tag erwachte. Eric fand ihn so lästig wie eine umherbrummende Fliege.
Er schlüpfte in einen dunklen Mantel und verließ das Wohnzimmer durch die Glastüren auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangstors. Er überquerte den Rasen, der sich vom Haus bis hin zu der felsigen Klippe des Long-Island-Sunds erstreckte, ging zu dem hohen Eisenzaun, der seinen Besitz zur Gänze umgab, und schwang sich ohne große Mühe darüber. Er bahnte sich einen Weg durch die Bäume und gelangte einige Meter hinter dem angestrengt wirkenden Mann, der dem Irrglauben anhing, ihn so gekonnt zu beschatten, zur Straße.
Eric ging nur ein kurzes Stück, bevor er innehielt, um seinen Kopf freizubekommen, indem er die Augen schloss. Er öffnete sich für das Durcheinander von Emotionen, dem er den Zugang für gewöhnlich verwehrte, und zuckte unter dem Bombardement der Eindrücke innerlich zusammen.
Stimmen jedes Tonfalls, jeder Flexion und Lautstärke schallten durch seinen Kopf. Gefühle von fürchterlicher Angst bis hin zu überwältigender Freude durchströmten ihn. Körperliche Empfindungen – sowohl Vergnügen als auch Schmerz – durchdrangen ihn, und er wappnete sich gegen diese seelische Attacke. Er war außerstande, mit dem Geist eines anderen Lebewesens in
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