Farben der Schuld
Jetzt sind die Akten bei der Staatsanwaltschaft, vielleicht wird es gegen sie ein offizielles Strafverfahren wegen Totschlags geben, einen Gerichtstermin, ein Urteil. Das Volk gegen Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger. Vielleicht erhält sie zusätzlich noch eine Disziplinarstrafe, weil sie sich durch ein Verbot ihres Chefs nicht beirren ließ, einen Mörder zu überführen.
Sie war schon zu Hause gewesen, den linken Arm noch im Gips, als sie mit ihren Fragen kamen. Und dann nahmen die Schmerzen in ihrem Handgelenk wieder zu, wurden unerträglich, brachten sie zurück in die Klinik. Untersuchungen folgten, noch mehr Untersuchungen, Morbus Sudeck lautete die Diagnose schließlich. Eine akute Entzündung des verletzten Gelenks, die einen weiteren Krankenhausaufenthalt erforderlich machte. Die Ärzte haben ihr sogar angeboten, noch eine Woche zu bleiben, doch der Gips ist ab, die Entzündung zurückgegangen, die Schmerzen erträglich und sie will heim.
Judith streift Mannis T-Shirt über den Kopf. Das geht jetzt wieder, einigermaßen jedenfalls, sie kann wieder allein für sich sorgen. Sie zieht den Kragen der Bluse, die sie unter dem T-Shirt trägt, aus dem V-Ausschnitt, betrachtet das Ergebnis im Spiegel über dem Handwaschbecken. Das T-Shirt wirkt so wie ein schwarzer Pullunder, im Brustbereich steht in knallroten Großbuchstaben STAYING ALIVE, darunter reißt die Silhouette eines John Travolta den Arm hoch. Judith beugt sich näher zum Spiegel. Sie hat abgenommen, was nicht weiter tragisch ist. Neben ihren Mundwinkeln und unter den Augen entdeckt sie neue Fältchen, womöglich sind sie aber auch schon länger da. Sie sieht eigentlich ganz normal aus. Nicht so, als ob sie beinahe gestorben wäre. Nicht so, als habe sie einen Menschen getötet, um ihr eigenes Leben zu retten.
»Sie sind also noch immer entschlossen, uns zu verlassen.« Die Stationsärztin betritt das Zimmer, lächelt, als sie die Botschaft auf Judiths Brust bemerkt.
»Es ist gut, wieder heimzukommen.« Judith lehnt sich ans Waschbecken. »Ich werde brav sein. Die Übungen machen.«
»Übernehmen Sie sich nicht. Besorgen Sie sich Hilfe.«
»Ich habe schon einen Termin bei einer Physiotherapeutin.«
»Es geht nicht nur um Ihre Hand.«
»Ja, ich weiß.« Judith erwidert den Blick der Ärztin, hält ihn aus. Es geht darum, das, was geschehen ist, zu akzeptieren und ihre Albträume nicht länger mit Tabletten zu dämpfen. Es geht darum, weiterzuleben, wieder aufzustehen. Ein Polizist, der getötet hat, verliert seine Unschuld, hat der Polizeiseelsorger Hartmut Warnholz zu ihr gesagt, der eines Tages ganz unangemeldet an ihrem Krankenbett aufgetaucht war. Er sah gar nicht so unsympathisch aus, längst nicht so vergeistigt, wie sie es von einem katholischen Priester gedacht hätte. Sie hat eine Weile mit ihm gesprochen, seine Visitenkarte akzeptiert und ihn dann doch nicht angerufen. Ich habe nichts falsch gemacht, hat sie ihm gesagt. Der Täter hat mir keine Chance gelassen. Ich war mir immer darüber im Klaren, dass zu meinem Beruf in letzter Konsequenz auch das Töten gehört.
Die Taxifahrt nach Köln dauert nur zwanzig Minuten. Der Morgen ist weiß, von Hochnebel verhangen. Auf den Feldern neben der Autobahn picken Krähen nach Saatgut. Aschermittwoch, fällt Judith ein, und auf einmal beginnt sie, sich zu freuen. Auf Köln, aufs Alleinsein und Alleinentscheiden, nach all den Wochen, in denen sie auf Hilfe angewiesen war, dem Rhythmus anderer unterworfen. Aschermittwoch – das Ende der Karnevalszeit und des Winters. Bald ist es März, Frühling, die Tage werden schon länger. Ich lebe, denkt Judith. Ich will leben. Mein Leben leben. In letzter Konsequenz habe ich doch deshalb getötet oder etwa nicht?
Der Taxifahrer will sie hineinbegleiten, als sie Judiths Wohnung erreichen, bietet ihr an, ihre Reisetasche für sie zu tragen, doch sie gibt ihm ein Trinkgeld und schickt ihn weg. Sie streicht mit der Hand über die Holzreliefs der Eingangstür, bevor sie aufschließt, schiebt mit dem Fuß die Reisetasche in den Flur des Altbaumietshauses. Aus ihrem Briefkasten quellen Werbeprospekte, im Treppenhaus riecht es nach Holzpolitur und Stein und einem Hauch von Mittagessen. Vertraute Gerüche. Judith öffnet den Briefkasten, schafft es nicht, mit der linken Hand die Klappe festzuhalten, die Werbeprospekte fallen heraus. Sie hebt sie auf, stopft sie in ihre Reisetasche, verschließt den Briefkasten wieder. Alles ist mühseliger mit nur einer
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