Seelentraeume
Prolog
»Mylady?«
Charlotte hob den Blick von ihrer Teetasse und sah Laisa an. Das Mädchen trug einen Umschlag aus dickem, festem Papier.
»Das ist für Sie gekommen.«
Als hätte sie etwas Lebendiges durchbohrt, fuhr Charlotte ein plötzlicher Schmerz in die Brust. Sie fror, und ihr wurde schummerig. Das konnte nichts Gutes bedeuten, sonst hätte sich die Wahrsagerin bei ihr gemeldet. Sie hatte das Gefühl, ihr blondes Haar zwischen ihren Fingern drehen und zwirbeln zu müssen. Was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.
»Danke«, zwang sie sich zu sagen.
Die Dienstmagd wartete, Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Kann ich Ihnen etwas bringen, Mylady?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
Laisa sah sie lange forschend an, ging dann widerstrebend über den Balkon zur Tür und ins Haus.
Der Umschlag lag vor Charlotte. Sie überwand sich, die Teetasse an die Lippen zu führen. Der Tassenrand bebte. Ihre Finger zitterten.
Sie konzentrierte sich auf die Tasse, besann sich auf die lange Jahre eingeübte Selbstbeherrschung. Ruhe und Sammlung lautete das Mantra der Heilerin.
Eine gute Heilerin ist weder hart- noch weichherzig
, flüsterte ihr die Erinnerung ein.
Sie lässt sich weder von Leidenschaft noch von Verzagtheit überwältigen, und niemals gestattet sie ihren Gefühlen, ihre Gabe zu verdunkeln
.
Sie lebte seit zwanzig Jahren nach dieser Überzeugung. Und sie hatte sie niemals im Stich gelassen.
Vor allem Ruhe.
Ruhe
.
Charlotte holte tief Luft und zählte jedes Heben und Senken ihrer Brust. Eins, zwei, drei, vier … zehn. Die Tasse lag nun ruhig in ihrer Hand. Charlotte trank daraus, setzte sie ab und riss den Umschlag auf. In den Fingerspitzen spürte sie kein Gefühl mehr. Oben auf dem Papier prangte das Siegel der Medizinischen Akademie von Adrianglia.
Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen
…
Charlotte zwang sich, jedes einzelne Wort zu lesen, dann blickte sie über das weiße steinerne Balkongeländer in den Garten. Dort unten führte ein sandfarbener gepflasterter Weg zu den Bäumen weiter hinten. Der Weg war auf beiden Seiten von kurzem, silbrigem Gras gesäumt, an das sich niedrige smaragdgrüne Hecken anschlossen, hinter denen Blumen blühten: Rosen in einem Dutzend Schattierungen, mit perfekten schweren Blüten; Stauden mit Bündeln sternförmiger roter, pinkfarbener und weißer Blumen; gelber Rittersporn, dessen zarte Röschen wie winzige Glocken geformt waren …
Sie würde
nicht
blühen. Sie würde
keine
Frucht tragen.
Ihr war die letzte Tür vor der Nase zugefallen. Charlotte schlang ihre Arme um den Leib. Sie war unfruchtbar.
Das Wort lag auf ihr wie ein erdrückendes Gewicht. Sie würde niemals Leben in sich heranwachsen fühlen. Sie würde ihre Gabe niemals weitergeben oder den Widerschein ihrer eigenen Züge im Gesicht eines Babys erkennen. Die Behandlungen und die Magie der besten Heilerinnen von Adrianglia hatten nichts gebracht. Die Ironie lag so deutlich auf der Hand, dass sie lachen musste – es klang bitter, spröde.
Im Land Adrianglia kam es auf zwei Dinge an: auf den Namen, den man trug, und die Magie, über die man verfügte. Ihre Familie war weder alt noch wohlhabend, sie hatte einen Allerweltsnamen, aber ihre Magie stand außer Frage. Bereits mit vier hatte sie ein verletztes Kätzchen geheilt, worauf ihr Leben abrupt eine neue Richtung eingeschlagen hatte.
Medizinische Begabungen waren selten und wurden vom Reich hoch geschätzt, so selten, dass Adrianglia an sie herangetreten war, als das Mädchen das Alter von sieben erreicht hatte. Ihre Eltern erklärten ihr das weitere Geschehen: Charlotte würde sie verlassen und am Garner College of Medical Arts studieren. Adrianglia gab ihr ein Dach über dem Kopf, unterrichtete sie und förderte ihre Magie, wofür Charlotte dem Reich nach der Beendigung ihrer Ausbildung zehn Jahre lang dienen würde. Nach dem Ende dieser Dekade würde sie in den Adelsstand erhoben, zur beneideten Elite gehören und ein kleines Anwesen ihr Eigen nennen. Ihre Eltern wiederum erhielten als Ausgleich für die Trauer über den Verlust eines Kindes eine Pauschale. Obwohl noch so jung, hatte Charlotte begriffen, dass sie verkauft worden war. Drei Monate darauf ging sie aufs College und kehrte nie wieder nach Hause zurück.
Mit zehn war sie ein Wunderkind, mit vierzehn Jahren ein aufgehender Stern und mit siebzehn, als ihre Dienstzeit offiziell begann, das Beste, was das College zu bieten hatte. Man nannte sie die HEILERIN und
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