Farmer, Philip José - Flusswelt 05
bestialischer, grausiger Taten, großer Ungerechtigkeit und Unterdrückung geworden, aber keine erreichte die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Geschehnisse im East End des London der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In diesem relativ kleinen Gebiet waren achthunderttausend Menschen zusammengepfercht, die meisten davon litten Hunger; sie aßen Küchenabfälle und waren froh, wenn sie welche bekamen. Sie waren betrunken, wenn sie es sich erlauben konnten, und oft auch, wenn sie es sich nicht erlauben konnten. Sie hausten in kleinen, schmutzigen Räumen, in denen die Tapeten von den Wänden fielen und es vor Ungeziefer nur so wimmelte, sie waren grausam zueinander, unwissend, abergläubisch und, was am schlimmsten war, ohne jede Hoffnung.
Burton wußte, daß das Leben der East End-Bewohner unglücklich war, aber erst, seit er selbst dort gelebt hatte, wenn auch nur aus zweiter Hand, fühlte er sich aufgrund der bloßen Existenz dieses Höllenlochs krank und schuldig. Schuldig, weil er jetzt begriff, daß er und alle anderen, die diese Zustände ignoriert hatten, verantwortlich für sie waren.
Von einem pervertierten, aber nichtsdestotrotz gültigen Standpunkt aus gesehen, hatte der Ripper eine gnädige Tat vollbracht, als er diese hungrigen, ausgemergelten, geschlechtskranken und hoffnungslosen Huren von ihrem tiefen Elend erlöst hatte.
Des weiteren hatte er unwillentlich das England außerhalb des East End gezwungen, sich das Inferno anzusehen, von dem es sich abgewandt hatte. Das Ergebnis war ein lauter Schrei nach Veränderungen gewesen, und viele Gebäude waren abgerissen worden, um Platz für bessere zu schaffen. Aber mit der Zeit hatten die Armut und das Elend ihre vorherige Ebene wieder erreicht -beides hatte nie sonderlich nachgelassen -, und das East End war von jenen, die nicht dort leben mußten, wieder vergessen worden.
Als Frigate von Burton die Ergebnisse seiner Nachforschungen erfuhr, war er fasziniert. »Du solltest den anderswo lebenden Hausbesitzern nachspüren«, sagte er, »die an den ärmsten der Armen verdient haben, und sie in den Orkus schicken.«
»Das ist Marxismus«, sagte Burton.
»Ich habe den praktizierten Kommunismus zwar verachtet«, sagte Frigate, »aber er hatte ein paar große Ideale. Ich habe auch den praktizierten Kapitalismus verachtet, zumindest viele seiner Auswüchse.«
»Aber er hatte seine Ideale«, sagte Burton.
Er hatte Frigate angesehen und dann gelacht. »Ist irgendein sozio-politisches Wirtschaftssystem je seinen Idealen nahegekommen? Sind sie nicht alle korrumpiert worden?«
»Natürlich. Also… müßten die Verderber bestraft werden.«
Nur el-Musafir hatte ausgedrückt, was sie zwar wußten, doch ignoriert hatten.
»Es kommt nicht darauf an, was sie… wir… auf der Erde getan haben. Es kommt darauf an, was wir jetzt tun. Wenn sich die Verderber und die Verdorbenen gewandelt haben, müßten sie ebenso belohnt werden wie die, die stets tugendhaft gewesen sind. Wenn ich Tugend und Tugendhaftigkeit definieren darf… « Er lächelte. »Nein, lieber nicht. Ich glaube, ihr seid des Weisen aus dem Turm, wie ihr mich manchmal nennt, überdrüssig. Meine Wahrheiten beunruhigen euch, auch wenn ihr mit mir übereinstimmt.«
»Was das betrifft, wen wir als Gefährten auferstehen lassen sollten«, sagte Frigate. »Nehmt zum Beispiel Kleopatra. Ihr und ich, wir würden sie gern in Fleisch und Blut sehen und ihre Geschichte hören, die Wahrheit herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Aber sie ergötzte sich daran, spitze Nadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen zu stechen und ihre Schreie und Zuckungen zu genießen. Shakespeare ignorierte dies, als er Antonius und Kleopatra schrieb. Genau wie George Bernard Shaw in seinem Caesar und Kleopatra. Vom literarischen Standpunkt aus gesehen taten sie recht daran. Würde man die Genialität und Größe Kleopatras und Caesars anerkennen, Anteil daran nehmen, oder über ihre Tragödie weinen, wenn man Zeuge ihres barbarischen Sadismus und ihrer kaltblütigen Mordgelüste gewesen wäre? Wir leben nun mal in der echten Welt, nicht in der der Literatur. Würdet ihr Kleopatra, Caesar oder Antonius als Nachbarn haben wollen?«
»Nur würde sagen, es hängt davon ab, wie sie jetzt sind.«
»Er hat natürlich recht. Er hat immer recht. Dennoch…«
Er wandte sich Nur zu.
»Du bist elitär. Du glaubst - und hast wahrscheinlich recht damit -, daß nur sehr wenige Menschen die angeborene Fähigkeit aufweisen, zu einem
Weitere Kostenlose Bücher