Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Lindner im Hinterraum merkt von alldem nichts. Er trinkt bedächtig seinen Kaffee aus, stellt die Tasse geräuschlos aufs Tablett, rückt Rock und Schlips zurecht und hinkt nach vorn in den Schalterraum. Alle erschrecken: Lindner über die Pistole vor Feuersteins Stirn; die zwei Räuber über den unerwartet auftauchenden Lindner; und Feuerstein über den Schreck in den Gesichtern der Räuber. So springt der Schreck von einem zum andern wie ein Eichhörnchen, das von Baumkrone zu Baumkrone eilt, und als der Schreck wieder bei Lindner anlangt, zuckt dieser zusammen, worauf reihum alle zusammenzucken, und dann löst sich eine Kugel Kaliber 7,65 Millimeter aus der Pistole. Sie durchbohrt Feuersteins Stirn, der Hinterkopf explodiert. Julius Feuerstein, siebenundzwanzig Jahre alt und ledig, Mitglied der nationalsozialistischen SA, des Haus- und Grundbesitzervereins, des Turnvereins Gablenberg, der Schneeschuhabteilung des Schwäbischen Albvereins sowie der Auto-Union, ist schon tot, als er im Fallen die offenstehende Kassenschublade herunterreißt. Es hagelt Mark- und Pfennigstücke auf ihn hinunter; die Scheine bleiben in der Schublade, da sie von Klammern festgehalten werden.
Lindner flieht zurück in den Hinterraum. Ein zweiter Schuss geht los, ein dritter, vierter, fünfter und sechster, Holz splittert, Mörtel spritzt, aber Lindner erreicht unverletzt den roten Knopf und drückt ihn erstmals in zweiunddreißig Dienstjahren. Draußen beginnt das Geschepper der Alarmglocke.
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An der Stelle, an der Julius Feuerstein starb, werden viele Jahre später zwei weiße Schreibtische mit zwei weißen Computern stehen. Die Räume beherbergen keine Bank mehr, sondern ein Reisebüro. An den Wänden hängen großformatige Fotografien von Bali, Mexiko und Spitzbergen, im Schaufenster liegen bunte Prospekte mit Last-minute-Angeboten. An den Tischen sitzen zwei freundliche junge Damen; wenn man ihnen vom Banküberfall erzählt, sehen sie gleichzeitig zu Boden, wie um nachzuschauen, ob auf dem Nadelfilzteppich etwa noch Blutflecken auszumachen seien, und rufen einstimmig in herzerwärmendem Schwäbisch: »Ja waa!«
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Augenzeugen sagten übereinstimmend, dass die Tür aufgeflogen sei und die Bankräuber herausstürmten; dass der kleinere stehenblieb und die Pistole auf die Passanten richtete; dass der andere in den Dixi stieg, den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Wagen zu starten versuchte; dass der Motor nicht ansprang, weil der Anlasser viel zu langsam und immer noch langsamer drehte und die Batterie leerte, bis der Räuber mit der Pistole rief. »Hör auf! Ich schiebe dich an.« Darauf habe er sich mit der linken Schulter gegen den Türrahmen gestemmt und den rechten Arm mit der Pistole auf die Passanten gerichtet. Auf der abschüssigen Talstraße sei der Dixi schnell in Fahrt gekommen; der Kleine mit der Pistole sei aufs Trittbrett gestiegen, dann sei ein Ruck durchs Auto gegangen, und der Motor sei angesprungen.
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Mein Großvater war ein wortkarger Mann. Wenn Großmutter in Rufnähe war, redete er grundsätzlich nicht. Und wenn er gesprächig wurde – etwa beim Schneiden der Sauerkirschbäume Anfang Februar weitab vom Haus –, so mied er sorgfältig Großmutters Weiberthemen. Er war Schulmeister. Sein Gebiet waren Fakten, und sein Wissen war enzyklopädisch: Schädlingsbekämpfung im Obst- und Gartenbau, das Sozialverhalten der Füchse und Krähen, die Umlaufzeiten der Jupitermonde, die Geschichte des Automobils. »Ich selber bin nie einen Dixi gefahren, aber der war schon sehr beliebt damals. Ein Kleinwagen britischer Bauart. Sportlich, aber nicht allzu teuer. Wurde ab 1928 von BMW in Lizenz gebaut, im Eisenacher Werk, wenn ich mich recht erinnere. Vier Zylinder in Reihe, 748,5 Kubikzentimeter Hubraum, stehende Ventile, knapp 15 PS und 100 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit. Ein Schwachpunkt war der A-förmige Leiterrahmen mit starren Achsen, vorne an Querblattfedern aufgehängt und hinten an Viertelelliptikfedern, was dem Dixi ein schwimmendes Kurvenverhalten gab. Trotzdem war er als Rennwagen ziemlich erfolgreich. Gewann 1929 den Alpenpokal, 1930 die Rallye Monte Carlo in der 750er-Kategorie.«
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Nach fünfhundert Metern biegt der Dixi nach links ab in die Abelsbergstraße und dann gleich nach rechts in die Luisenstraße – eine kleine, ruhige Sackgasse mit Gärten und zweistöckigen Arbeiterhäuschen. Im Obergeschoss von Hausnummer 38 hängt eine Frau Bettzeug zum
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