Fata Morgana
ich machte mir Sorgen um sie, ein Gefühl, das immer stärker wurde. Weißt du, ich war mir ganz sicher, dass etwas nicht stimmte, aber ich hätte nicht zu sagen gewusst, was. Es war ein zutiefst beunruhigendes Gefühl, und sehr, sehr deutlich.«
»Und, hat es sich bewahrheitet?«
»O ja. Ihr Vater, der alte Admiral, war schon seit einiger Zeit sehr wunderlich gewesen, und buchstäblich am nächsten Tag ging er mit einer Kohlenschaufel auf sie los und schrie sie an, sie sei der Antichrist in Gestalt seiner Tochter. Um ein Haar hätte er sie umgebracht. Er kam in die Heilanstalt, und sie hat sich nach einem monatelangen Krankenhausaufenthalt wieder erholt – aber es war knapp.«
»Und du hattest an dem Tag in der Kirche tatsächlich eine Vorahnung?«
»Vorahnung würde ich es nicht nennen. Es beruhte auf einem Faktum – das ist fast immer so, nur erkennt man es nicht immer gleich. Sie hatte sich ihren Sonntagshut verkehrt herum aufgesetzt. Wirklich bemerkenswert, denn Grace Lamble war in allem sehr penibel, überhaupt nicht nachlässig oder zerstreut, und man konnte sich kaum vorstellen, sie könnte es einmal nicht merken, dass sie den Hut für den Kirchgang falsch herum trug. Wie sich herausstellte, hatte ihr Vater einen marmornen Briefbeschwerer nach ihr geworfen und damit den Spiegel zertrümmert. Sie hatte nur rasch den Hut geschnappt und war aus dem Haus gelaufen, nur darauf bedacht, den Schein zu wahren und zu verhindern, dass die Dienstboten etwas mitbekamen. Sie selbst führte sein Verhalten auf ›Papas Seemannstemperament‹ zurück, sie erkannte nicht, dass er definitiv nicht mehr ganz bei sich war. Obwohl sie es längst hätte erkennen müssen. Er beklagte sich ständig bei ihr, dass man ihm nachspioniere und seine Feinde ihm nach dem Leben trachteten – die üblichen Symptome eigentlich.«
Mrs Van Rydock sah ihre Freundin respektvoll an. »Womöglich ist dein St. Mary Mead«, sagte sie, »doch nicht die verschlafene Idylle, die ich mir immer vorgestellt habe, Jane.«
»Die menschliche Natur, meine Liebe, ist überall mehr oder weniger die gleiche. Nur ist es in der Großstadt nicht so gut zu beobachten, das ist alles.«
»Du willst also wirklich nach Stonygates fahren?«
»Ich fahre nach Stonygates. Obwohl es vielleicht ein bisschen unfair gegenüber meinem Neffen Raymond ist. Den Eindruck zu erwecken, dass er mich nicht unterstützt, meine ich. Allerdings ist der gute Junge für ein halbes Jahr in Mexiko, und bis dahin dürfte wohl alles vorbei sein.« »Was soll bis dahin vorbei sein?« »Carrie Louises Einladung wird sicher nicht für unbegrenzte Zeit gelten. Drei Wochen, vielleicht einen Monat. Das müsste mir reichen.«
»Um herauszufinden, was dort im Argen liegt?« »Um herauszufinden, was dort im Argen liegt.« »Also Jane«, sagte Mrs Van Rydock, »du hast wirklich ein gesundes Selbstvertrauen!«
»Du hast Vertrauen zu mir, Ruth«, erwiderte Miss Marple leicht verschnupft. »Ich kann dir nur versichern, dass ich mir Mühe geben werde, dein Vertrauen nicht zu enttäuschen.«
Zweites Kapitel
B evor sie mit dem Zug nach St. Mary Mead zurückfuhr (verbilligte Mittwochs-Rückfahrkarte), sammelte Miss Marple methodisch und gewissenhaft noch bestimmte Fakten.
»Man könnte sagen, Carrie Louise und ich korrespondieren noch miteinander, aber das beschränkt sich weitgehend auf Weihnachtskarten und Kalender. Mir kommt es nur auf die Fakten an, liebste Ruth. Und auf ein paar Hinweise, wen ich alles in Stonygates antreffen werde.«
»Nun, du weißt von Carrie Louises Ehe mit Gulbrandsen. Sie blieb kinderlos, und Carrie Louise nahm sich das sehr zu Herzen. Gulbrandsen war Witwer und hatte drei erwachsene Söhne. Schließlich adoptierten sie dann ein Kind. Pippa nannten sie es – ein entzückendes kleines Geschöpf. Sie war gerade zwei Jahre alt, als sie sie bekamen.«
»Woher kam sie? Aus was für einem Milieu?«
»Also wirklich, Jane, das weiß ich nicht mehr – wenn ich es überhaupt jemals gewusst habe. Vielleicht hatten sie das Mädchen über eine Vermittlung bekommen. Ein unerwünschtes Kind, von dem Gulbrandsen irgendwie gehört hatte. Warum? Meinst du, das ist wichtig?«
»Nun, man möchte immer über die Hintergründe Bescheid wissen. Aber bitte, sprich weiter.«
»Nicht lange danach wurde Carrie Louise doch schwanger. Von Ärzten weiß ich, dass das gar nicht so selten ist.«
Miss Marple nickte. »Ja, das stimmt wohl.«
»Bei ihr war es jedenfalls so. Und
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