Faunblut
und kroch auf allen vieren aus der Schusslinie. Der Geruch der verbrannten Treibladungen der Patronen – trocken, herb und fast ein wenig an Rauchfleisch erinnernd – verursachte ihr schlagartig Übelkeit. Es gelang ihr, in den Sichtschutz einer Überdachung zu kommen. Dort rappelte sie sich auf und floh an einem schmalen Kanal entlang. Zerbrochene Ruderboote hingen wie Treibgut an vermoderten Seilen mit langen grünen Algenbärten. Es stank nach öligem Stein und Brackwasser.
Schüsse verhallten hinter ihr. Und dann nahm sie voller Entsetzen wahr, dass das Echo überlebt hatte.
Schlimmer noch: Es war ihr immer noch auf den Fersen und holte auf, sie konnte es fühlen und hören, und ehe sie darauf reagieren konnte – schnellte es an ihr vorbei!
Ein Tropfenregen traf ihre Wange, ein Stück nassen Mantels klatschte gegen ihren wunden Knöchel, dann hatte es sie schon überholt und hetzte auf die nächste Brücke zu, die noch etwa dreißig Schritte entfernt war. Jade war viel zu verblüfft, um zu schreien. Das Echo schien genau zu wissen, wohin es wollte. Auf der anderen Seite des Kanals befanden sich die alten Kontore, ein gutes Versteck, labyrinthartig und mit vielen Kellern, die Verbindungen zu den Kanälen hatten. Mit langen Sätzen hetzte das Echo die steile Brücke hoch. Gerade als es den Scheitelpunkt des Bogens erreicht hatte, zögerte es plötzlich und sah sich nach Jade um.
Jade, die ohnehin langsamer geworden war, blieb ruckartig stehen. Würde es zurückkommen, um sie anzufallen? Durch die Maschen des Fischernetzes zeichnete sich ein Wangenbogen ab. Das Wesen betrachtete sie so angespannt, als würde es auf sie warten. Dann peitschte wieder ein scharfer Knall die Luft. Das Echo prallte zurück und taumelte rückwärts von der Brücke, während der Schuss noch in den Gassen widerhallte. Kurz hinter dem Brückenpfosten, nur noch wenige Schritte von Jade entfernt, verlor es das Gleichgewicht und brach zusammen.
Jade hätte erleichtert sein müssen, doch alles, was sie fühlte, waren Angst und eine seltsame Beklemmung. Atemlos beobachtete sie, wie das tödlich getroffene Wesen zusammensank wie ein leerer Mantel. Da lag der Feind, an dessen Fangzähnen das Blut von Menschen klebte! Jades Knie gaben nach, sie sackte dort, wo sie stand, zu Boden und krallte ihre Hand in den Kies. Er war feucht und kühl, von Wasser durchtränkt.
Wie betäubt sah sie zu, wie das Wesen sich krümmte und litt und schließlich reglos dalag. Sie verstand sich selbst nicht, doch die Hilflosigkeit in der Haltung des Ungeheuers berührte und verstörte sie.
Schritte näherten sich von der anderen Seite der Brücke.
Erst dachte Jade, eine blitzartige Erinnerung würde ihr das eben Gesehene noch einmal vor Augen führen, doch dann erkannte sie das zweite Echo. Es kam über die Brücke gerannt, die nassen Lumpen flatterten. Als es Jade entdeckte, strauchelte es beinahe, fing sich jedoch gleich wieder und kam am Fuß der Brücke schlitternd zum Stehen. Sein Blick fiel auf den Körper seines Gefährten. Einen ewigen Augenblick lang verharrten sie – zwei Gestalten, eine im Kies kauernd, die andere stehend, und zwischen ihnen der Tote.
Als kleines Mädchen wäre Jade beinahe von einer Wasserviper gebissen worden. Das Reptil war durch eines der Rohre, die vom Fluss direkt in das Haus führten, in die Küche gelangt. Jade hatte weglaufen wollen, stattdessen stand sie dort wie eingefroren, unfähig, etwas anderes zu tun, als in die gleichgültigen Augen der Giftschlange zu starren, bis diese nach vorne schnellte und Jade gerade noch außer Reichweite springen konnte. Und auch jetzt saß sie da wie damals: starr vor Angst, das Echo beobachtend, das sich nun in einer gleitenden Bewegung wie ein Schlafwandler einmal um seine Achse drehte, als wolle es einen Fluchtweg finden. Dann wirbelte es herum, spannte sich und rannte los. Jades Körper musste ganz von selbst reagiert haben, jedenfalls spürte sie, wie sie sich zu Boden warf und wie ihre Schulter über Stein rieb. Sie zog die Beine ans Kinn und umfasste den Kopf schützend mit den Armen. Das Echo sprang über den Leichnam seines Gefährten hinweg, lief aber nicht weiter auf Jade zu, sondern bog ab und floh nach Norden. Im Sprung hatte sein Mantel das Gesicht des Toten gestreift und das Fischernetz zur Seite geschoben. Mit einem Mal blickte Jade dem toten Wesen mitten ins Gesicht.
Dort, wo das Geschoss in die Schläfe eingedrungen war, hatte es eine Wunde. Blut hätte daraus
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