Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
großen, schweren Wolken, die die Berge einhüllten, den strahlend blauen Flecken Himmel. Flüsternd nahm ich Abschied von den Kindern, den Bauern und all den gebildeten Jugendlichen, die zurückbleiben mussten. Und von Dongmei und Yiping.
Dann senkte ich den Blick, barg das Gesicht in den Händen und weinte. Meine Tränen fielen wie Regentropfen auf meine nackten Füße und begannen, die karge Erde der Berge abzuwaschen.
Nachbemerkung
Viel Zeit ist seither vergangen. Es heißt, dass man die Vergangenheit begraben kann, doch ich weiß, dass das nicht stimmt. Denn die Vergangenheit wühlt sich mit ihren Krallen immer wieder hervor.
Khaled Hosseini, Drachenläufer ( 2003 )
Feder im Sturm
ist meine Geschichte und die meiner Familie. Aber es ist auch die Geschichte von Millionen Kindern wie mir, deren Geschichte niemals erzählt wurde und die wie ich das Unglück hatten, in eine Zeit revolutionärer Umwälzungen voller Brutalität und Unmenschlichkeit hineingeboren zu werden. Inzwischen bin ich mehrmals nach China zurückgekehrt, um die Städte und Dörfer aufzusuchen, in denen ich aufgewachsen bin. Dort habe ich mit meinen Tanten und Onkeln und meiner besten Freundin aus Kindertagen, Qin Xiaolan, gesprochen. Erst dank dieser Erfahrungen bin ich in der Lage, über diese Zeit zu schreiben.
Alle Gespräche aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend habe ich nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben. Von bestimmten Ereignissen, etwa dem Besuch bei meinem Vater, haben mir meine Eltern erzählt. So wurden ihre Erinnerungen zu einem Teil der meinen.
Bei manchen Wortwechseln, etwa mit den Kindern der Familie Sun, habe ich das Gefühl, sie hätten erst gestern stattgefunden. Ich höre noch ihr Hämmern an der Tür des Klassenzimmers, ihre Drohungen und den Klang ihrer Schritte, als sie mich verfolgten. An die Jahre, in denen ich heranwuchs, zur Schule ging, Freunde zu Hause besuchte, auf dem Land lebte und enge Freundschaften schloss, kann ich mich noch gut erinnern.
Auch wenn einige Namen geändert wurden, um die Identität von Personen oder Familien zu schützen, beruht das vorliegende Buch auf Tatsachen. Ich habe die geschilderten Ereignisse gemeinsam mit anderen recherchiert. Ich bin an die Orte zurückgekehrt, an denen ich gelebt habe. Wieder und wieder habe ich Tagebucheinträge und andere Aufzeichnungen von mir gelesen. Ich habe mit alten Freunden gesprochen, aber auch mit Menschen, die mich denunziert haben. Ich habe Türen zu Zimmern aufgestoßen, die ich jahrzehntelang nicht betreten hatte. Ich bin hineingegangen, habe mich hingesetzt und in meinem Gedächtnis geforscht. Dann vernahm ich wieder die Stimmen, die ich als kleines Mädchen gehört habe. Und auch das Lachen und Weinen von damals. Ich entsann mich all der Dinge, die ich hier beschreibe – Geschehnisse, Menschen, Orte, Gerüche und Klänge. Wie bei jedem, der sich lang zurückliegende Ereignisse an fernen Orten ins Gedächtnis ruft, sind auch meine Erinnerungen sehr persönlich, und vielleicht unterscheiden sich die Worte, an die ich mich erinnere, von denen, die ein anderer im Ohr hat. Doch wie jedem, der eine lange, traumatische Ereigniskette durchlebt hat, ist mir alles viel gegenwärtiger, als wenn meine Kindheit ganz normal verlaufen wäre. Denn wenn ich die Augen schließe, suchen mich die Bilder und Geräusche aus dieser Zeit noch heute heim.
Im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass der Mensch im Grunde gut ist und ihm von seinem Wesen her Würde und Stärke gegeben sind. Allerdings durchlebte ich eine Zeit, in der mir dieser Glaube verloren ging. Und dies ausgerechnet in einer Zeit, als ich noch unerfahren und verletzlich war und Mitgefühl dringend gebraucht hätte – in meiner Kindheit. Einer Kindheit, die viel zu früh zu Ende ging.
Im Gegensatz zu Millionen anderen Menschen habe ich die Jahre des revolutionären Chaos in China überlebt. Viele, die damals umkamen, waren noch Kinder. Und einige dieser Kinder waren meine Freunde. Wir alle waren die unschuldigen und häufig übersehenen Opfer einer finsteren Zeit.
Ich hoffe, dass meine Biografie Mahnung und Erinnerung an all die Kinder ist, die im Chaos untergingen, und an all jene Überlebenden, denen ein elementares Recht geraubt wurde – das Anrecht auf Unschuld und Glück. Vielleicht kann ich mit meiner Geschichte dazu beitragen, dass anderen Kindern solche leidvollen Erfahrungen erspart bleiben.
Emily Wu
Cupertino (Kalifornien)
Fußnoten
1
Gemeint
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