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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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hat an einer amerikanischen Universität studiert. Und jetzt ist der Professor hier gelandet«, meint der Fuhrmann, den Blick auf die Straße gerichtet. »Es gibt hier viele Professoren. Und da drüben auch.« Er nickt zu einer Gruppe von Erdhügeln mit nummerierten Pfählen hinüber.
    Als die Straße leicht anzusteigen beginnt, hält er den Karren an. »Weiter kann ich deine Tochter nicht mitnehmen«, sagt er. »Sonst kriege ich eine Menge Ärger. Besser, ihr geht den Rest zu Fuß.«
    »Ist es noch weit?«, fragt die Frau.
    »Gleich da drüben«, erwidert er und deutet nach vorn.
    Die Frau hebt mich vom Karren und dankt dem Fuhrmann. »Du bist ein guter Mensch«, sagt sie. »Wie heißt du?«
    »Du willst meinen Namen wissen? Er lautet 905 131 .« Der Mann lächelt traurig, dann schnalzt er wieder mit der Zunge und fährt weiter.
    Als wir auf der Kuppe des niedrigen Hügels angelangt sind, sehen wir in der Ferne rote Backsteinmauern mit glitzernden Stacheldrahtrollen. An den Ecken ragen Wachtürme auf.
    Die Frau bleibt stehen, um das Bild auf sich wirken zu lassen. Dann seufzt sie: »Jetzt gehen wir Papa besuchen, Yimao.«
    Während wir uns dem Lager nähern, nehmen uns Wachen aus dem nächstgelegenen Turm mit Ferngläsern ins Visier. Sie lassen uns nicht aus den Augen, bis wir den Unterstand vor dem Haupttor erreicht haben, wo sich die Besucher registrieren lassen müssen.
    Auf einem Feld in der Ferne bewegen sich Hunderte winziger Gestalten. Bei ihrer Tätigkeit wirbeln sie braunen Staub auf, der wie eine Wolke über ihnen hängt. Sie sind alle gleich gekleidet und viel zu weit weg, als dass die Frau Männer von Frauen unterscheiden oder gar ihren Mann dort ausfindig machen könnte.
    Ängstlich reicht sie dem Wachposten ihre Papiere. »Es ist noch nicht zu spät, oder?«, fragt sie.

Teil I
    Das Chaos
    Ich sah China als alte Vettel, so heruntergekommen und schwachsinnig, dass sie ihre eigenen Kinder fraß. Die Unersättliche hatte schon früher viele junge Leben vertilgt. Jetzt schlang sie wieder frisches Fleisch und Blut in sich hinein, und gewiss würden ihr noch viele zum Opfer fallen. Den ganzen Tag verfolgte mich dieses entsetzliche Bild, und ich sagte mir im Stillen: China ist eine Hündin, die ihre eigenen Jungen frisst!
    Ha Jin, Verrückt ( 2002 )

Kapitel 1
    I m vierten Winter der Hungersnot wurde ich zu meiner Familie zurückgebracht. Es war in der letzten Januarwoche, wenige Tage vor dem chinesischen Neujahrsfest. Ich war dreieinhalb Jahre alt.
    Wir wohnten in einem großen Haus in Tianjin, wo ich mir mit meiner Großmama ein Schlafzimmer im Erdgeschoss teilte. Meine Mutter, mein Vater und meine drei Schwestern schliefen im Zimmer nebenan. Über uns wohnten drei Onkel und Tanten mit ihren Familien. Insgesamt lebten also neun Erwachsene und zwölf Kinder im Haus.
    An meinem letzten Morgen dort wurde ich noch vor Tagesanbruch durch eine sanfte Berührung geweckt. Papa stand neben meinem Bett, den Finger an die Lippen gelegt, da Großmama neben mir schlief. Er trug mich aus dem Zimmer und setzte mich im Flur auf einen Hocker, suchte Kleidung für mich zusammen und steckte sie mit meinem einzigen Spielzeug – einer Puppe – in eine Tasche. Dann half er mir, meinen Wintermantel anzuziehen, band mir die Wollmütze unter dem Kinn fest und wickelte mir einen Schal um den Hals. Schließlich zog er mir noch meine Fäustlinge über und die Winterschuhe an. Nachdem er ebenfalls in seinen Mantel geschlüpft war, nahm er die Tasche mit der Kleidung in die eine Hand und meine kleine Hand in die andere. Fast geräuschlos öffnete er die Tür gerade so weit, dass wir beide durch den Spalt schlüpfen konnten, zog sie hinter uns zu und sperrte ab.
    Es war ein kalter, stiller Morgen. Weiße Flocken wirbelten durch die Luft. Der Hof lag unter einer frischen Schneedecke begraben. Weil ich auf den rutschigen Pflastersteinen schlecht laufen konnte, bückte sich Papa und nahm mich auf den Arm. Als er sich wieder aufrichtete, ging im Schlafzimmer meiner Großmama Licht an, und ich hörte einen gedämpften Schrei: »Maomao!«
    Ich drehte mich auf Papas Arm um und wollte rufen: »Hier bin ich, Großmama.« Aber er flüsterte: »Sei still!«, und eilte durchs Tor hinaus auf die Glücksgasse. Wieder rief die Stimme ängstlich: »Maomao! Wo bist du?«
    Papa hastete die Gasse hinunter. Zwei Häuserblocks weiter blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Schulter.
    An

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