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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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auf. Da unsere Schule aber von allen Bergschulen am weitesten vom Kommunenhauptquartier entfernt war, gehörten wir zu den Letzten, die eintrafen. Vor dem Hauptquartier standen die Kinder aus all den umliegenden Dörfern und Hunderte von Bauern bedrückt beisammen. Aus den Lautsprechern dröhnte ein Klagelied nach dem anderen und hallte als Echo von den Bergen wider.
    Auf einem Podium thronte ein großes Porträt des Vorsitzenden Mao, mit schwarzem Stoff drapiert und weißen Blumen umkränzt. Man befahl uns, das Bild anzusehen und uns davor zu verbeugen. Fast alle weinten, manche klagten laut und reckten gramvoll die Arme empor. Andere sahen lediglich betrübt aus, schluchzten leise vor sich hin und betupften ihre Wangen mit einem Taschentuch. Ich versuchte, ein paar Tränen herauszupressen, aber vergeblich. In meinem Inneren war zu viel Aufregung und Freude. Während sich ein Redner nach dem anderen erhob und Mao pries, hätte ich am liebsten laut aufgelacht und getanzt. Dongmei und ich wechselten von Zeit zu Zeit schelmische Blicke. Jede wusste, was die andere dachte.
    Der Fußmarsch zum Hauptquartier hatte zwei Stunden gedauert, meine Schüler waren müde. So setzten sie sich während der langwierigen Zeremonie hin. Weil ich mir aber nicht vorwerfen lassen wollte, respektlose Schüler heranzuziehen, ging ich zwischen ihnen umher, zog sie wieder auf die Beine und stellte sie in Richtung des Porträts. Als die Feier endete und sich die Gruppen allmählich auf den Heimweg machten, erblickte ich Yiping. Er war nicht weit weg, aber mit seinen Schülern beschäftigt, und hatte mich nicht gesehen. Mein Herz pochte schneller, mein Gesicht glühte, und ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Zwischen uns standen einige Hundert trauernde Menschen. Als sich die Menge zu zerstreuen begann, wurden die einen hierhin, die anderen dorthin gedrängt. Der Menschenstrom trieb Yiping und mich in entgegengesetzten Richtungen auseinander. Zudem hielten sich meine Schüler links und rechts von mir an meinen Händen und Armen fest. Als ich sah, wie Yiping sich mit seinen Schülern von mir fortbewegte, brach ich in Tränen aus. Ich wollte nach ihm rufen, brachte aber keinen Ton heraus. In der Annahme, ich weinte um den Vorsitzenden Mao, versuchten mich mehrere Erwachsene zu trösten. Aber ich weinte nicht um Mao, sondern um Yiping.
     
    Eigentlich hatten wir erwartet, dass sich unser Leben nun rasch ändern würde, aber die Tage schleppten sich dahin, ohne dass etwas geschah. Trotzdem hielten Dongmei und ich an unserer neu gewonnenen Hoffnung fest. Schließlich erreichte uns aus Peking die Nachricht, dass ein neuer politischer Kurs eingeschlagen werde. Im ganzen Land würden Prüfungen zur Studienzulassung abgehalten werden. Der Hochschulzugang sollte teilweise auch durch die Prüfungsergebnisse und nicht nur durch die familiäre Herkunft ermöglicht werde. Wegen der enormen Zahl der Oberschulabsolventen des letzten Jahrzehnts, die ihre Ausbildung nicht hatten fortsetzen dürfen, würden aber nur die besten zwei Prozent der Prüfungskandidaten einen Studienplatz an Hochschulen oder Fachhochschulen bekommen.
    In den nächsten Wochen begannen im ganzen Land gebildete Jugendliche, unermüdlich zu büffeln und ihre Kenntnisse aufzufrischen. Alle wussten, dass sie vor einem Scheideweg standen, dass eine Spitzenleistung bei den Prüfungen ihre Zukunft dramatisch verändern würde. Da es nur wenige Lehrbücher gab, wurden in den Bergen teuer gehandelte handschriftliche Exemplare und wissenschaftliche Erläuterungswerke von einem zum anderen weitergereicht. Wundersamerweise bekam Dongmei von ihren Eltern aus Shanghai drei alte Lehrbücher geschickt, die sie irgendwie hatten retten können. Die Mathematik-, Physik- und Chemiebücher waren für uns wertvoller als für die Rotgardisten einst Maos Kleines Rotes Buch. Nach dem Unterrichten brachten wir jeden Tag mehrere Stunden mit Lernen zu. In manchen Nächten arbeiteten wir sogar durch. Im Morgengrauen fragte dann die eine die andere ab. So unterstützten und ermutigten wir uns gegenseitig.
    Mehr als dreihundert gebildete Jugendliche aus der Kommune nahmen an den zweitägigen Prüfungen teil, die Anfang Dezember in der Bezirksoberschule stattfanden. Jeder von uns saß an einem Schreibpult, auf dem in der rechten oberen Ecke ein pinkfarbener Zettel für jeden Prüfungsteilnehmer lag. Ehe ich zu schreiben anfing, bat ich Gott um seinen Beistand. Dann noch einmal. Und ich erinnerte ihn daran,

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