Mutti packt aus
Startschuss
»Du, Mama, also ich weiß ja, dass du uns Kinder alle gleich lieb hast«, gibt sich mein Großer überzeugt und beeilt sich, mein Stirnrunzeln zu glätten. Er greift sogar nach der Einkaufstasche, damit ich das Baby tragen kann. Auf der ersten Treppenstufe bleibt er stehen und holt tief Luft. »Also, ich finde das auch alles gerecht, und keiner von uns soll jetzt denken, dass du ihn weniger lieb hast, nur weil wir jetzt noch ein neues Baby haben.« Gerührt schaue ich meinen Ältesten an. Bis ich das nächste Mal nach seiner Geburt ins Krankenhaus ging, hatte ich ausschließlich ihn als mein Baby angesehen – nur um dann drei Tage später mit einem anderen Baby nach Hause zu kommen, das diesen Titel beanspruchte. Und ich wurde von bösen Gewissensbissen geplagt, gerade so als hätte ich einen Seitensprung gewagt und ihn mit dem Baby betrogen. Jetzt macht er das schon zum dritten Mal mit! Und wie tapfer er ist! Bevor ich allerdings mein reuiges Mitgefühl in die Form eines Versprechens auf eine supertolle Überraschung gießen kann, hebt er die Schultern und lässt sie gleich wieder fallen. Nick schweigt kurz, dann leuchtet ein betörendes, verständnisvolles Lächeln in seinem Gesicht auf. »Aber sag doch mal«, flötet er zuckersüß, »wen hast du denn jetzt eigentlich am liebsten?«
Ja, wen denn? Schwer zu sagen. Ob ich ihn oder seine Schwester lieber hätte, hat er mich vor drei Jahren schon mal gefragt. Da konnte ich noch elegant kontern: Wen hast du denn lieber? Deine linke Hand oder deine rechte? Den linken Fuß oder den rechten? Angemessen verwirrt geriet er damals ins Grübeln und ließ die Sache auf sich beruhen, ohne mich weiteren Verhören zu unterziehen. Aber da waren es ja auch erst zwei! Zwei Kinder kann man gleichzeitig an die Hand nehmen oder sogar auf den Arm, wenn man das sportlich sehen möchte. Das dritte erwies sich als kleine Schwierigkeit, mithilfe von Bauchtüchern und Rückentragen allerdings als logistisch lösbares Problem, aus dem sich dann irgendwann auch eine Beziehung entwickelt hat. Aber jetzt sind es vier. Und mir gehen die beruhigenden Metaphern aus.
Seine fünfjährige Schwester singt ein paar Tage darauf weltvergessen vor sich hin: »Da war mal eine Mutter, und die hatte drei Kinder, dann kam noch ein Baby dazu, und es ging nie wieder weg, da waren alle sehr sehr traurig.« Ihre sachlichen und von mir immer wieder barsch abgelehnten Vorschläge, man könnte das Baby doch weggeben, bis es größer geworden sei, brachten weder ihr noch mir Trost oder Hilfe. Allerdings wurden die tätlichen Übergriffe seltener, als sich herausstellte, dass das Baby als Babypuppe einsetzbar war, die sich willenlos im Puppenwagen verstauen und herumfahren ließ. Genau dieses Baby war Charlotte. Sie war bis vor kurzem mit knapp zwei Jahren die Kleinste und ist nun frisch vom Thron des Nesthäkchens verstoßen. Sie baut sich vor dem Baby auf, das in seiner Wippe vor der Waschmaschine konzentriert die 40-Grad-Buntwäsche betrachtet. Die nunmehr große, kleine Schwester verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre Augen funkeln böse. Grenzenlosen Abscheu im Gesicht, betrachtet sie ihren kleinen Bruder und schnaubt verächtlich: »Wichser!« Das Baby wendet entzückt den kahlen Kopf vom bunt wirbelnden Schleuder programm, jauchzt und lächelt freundlich zurück.
Prima macht er das – jedes Mal, wenn ihn eines seiner Geschwister anspricht, gerät der kleine Kerl in helle Aufregung, wedelt wie verrückt mit Armen und Beinen, strahlt über das ganze Gesicht vor Vergnügen. Es ist nicht zu übersehen: Für ein kleines Baby ist es wunderbar, in einer großen Familie aufzuwachsen! Jedenfalls erkläre ich ihnen unermüdlich jede Lebensregung des Neuzugangs souverän und etabliere ein innerfamiliäres wording, das dem Pressesprecher eines havarierten Atomkraftwerks zur Ehre gereichen würde. So schafft man es, friedliche, sichere Weg in vermintem Gelände zu bahnen! Seine offensichtliche Freu de als pure Begeisterung darüber zu deuten, dass er einen so tollen Kerl zum großen Bruder hat und außerdem noch zwei Super-Girls als Schwestern. Wochen später, als die ehemals Jüngste ihm zum ersten Mal mit gönnerhafter Mie ne eines ihrer Matchbox-Autos in die Wiege reichte, schien das Eis gebrochen. Richtig laut brach es erst ein paar Monate später, als er mit der einen Hand nach dem Löffel grapschte, triumphierend quiekte und mit der anderen den vollen Teller Möhrenbrei vom Tisch fegte. Sechs
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