Fehlschuss
auf, zu der er fähig war.
„Hatte sie was in den Taschen?“
Er fing sich einen strengen Blick ein und hoffte, selbst völlig
neutral auszusehen.
„Das ist Sache der Polizei!“, sagte Anne scharf. „Lass die Finger
davon!“
„Ist es nicht auch ein bisschen meine Sache?“
„Chris! Das letzte Mal …“
„Das letzte Mal ist der Polizei ein international gesuchter
Drogendealer ins Netz gegangen“, unterbrach er sie schnell.
„Der dich beinahe umgebracht hätte!“
„Was immerhin Susanne verhindert hat!“, konterte Chris und setzte ein
breites Grinsen auf. Er wurde nur ungern daran erinnert, dass er einen der
umfangreichsten Polizeieinsätze in der Geschichte von Köln provoziert hatte,
nur weil er glaubte, seine Tarnung als potentieller Großabnehmer von Kokain
sei perfekt gewesen. Dass der Holländer, der unter anderem wegen zweifachen
Mordes gesucht wurde, ihn längst durchschaut hatte und ihm bei einem
nächtlichen Treffen am Rasthof Frechen die Gurgel herumdrehen wollte — damit
hatte er nicht gerechnet. Und hätte Susanne nicht im letzten Moment einen Tipp
bekommen und an jeder Raststätte auf dem Kölner Autobahnring eine Einheit
postiert …
„Du könntest ihr gegenüber also ruhig etwas mehr Dankbarkeit zeigen“,
setzte er noch eins drauf. „Also, was ist jetzt? Hatte sie was in den Taschen?“
„Was bist du bloß für ein Dickschädel!“, brummte Anne, wandte sich
aber zur Tür. „Komm schon!“
Chris folgte ihr durch den Flur die roten Markierungen entlang. Seine
mindestens zwei Nummern zu große Pantoletten klapperten über den Boden. Ein
strafender Blick in seine Richtung, dann öffnete Anne die Tür zu einem
winzigen, bis zur Decke gekachelten Raum. Er war leer bis auf eine Bahre, unter
deren Laken sich ein menschlicher Körper abzeichnete. Nur die Zehen ragten
heraus. Leblose, sehr blasse Zehen mit gelblichen Nägeln.
Chris zwang sich, an dem Laken vorbeizusehen. „Ist sie … ich meine …
vergewaltigt …“
Anne hob die Schultern und hielt ihm ein nasses Kleiderbündel hin.
„Äußerlich keine feststellbaren Spuren. Aber das heißt nichts. Ich denke, die
Rechtsmedizin wird das klären.“
Chris nahm das Bündel und faltete es auf dem Boden auseinander.
Natürlich hätte es eigentlich in eine sterile Plastiktüte gehört, um zunächst
labortechnisch untersucht zu werden. Zumindest aber hätte er Einmalhandschuhe
tragen müssen. Andererseits hatten hier im Krankenhaus schon so viele Leute die
Kleidung berührt, als sie die Frau auszogen, dass es fast nicht mehr darauf
ankam. Entschlossen langte er in die Hosentaschen der Jeans. Ein aufgeweichtes,
zerknittertes Päckchen Marlboro vorne links. Die rechte Tasche war leer. Aus der
linken Gesäßtasche fingerte er eine Geldbörse. Ein paar Zehner und Zwanziger.
Eine Straßenbahnfahrkarte, Personalausweis.
„Lautmann, Ingeborg Maria“, las Chris vor. Seine Stimme hallte in dem
kleinen Raum wider. „Himmel — sie wäre nächste Woche einunddreißig geworden.“
„Wohnhaft?“, fragte eine schnarrende Stimme hinter ihm.
Chris wirbelte herum. Susanne schaute ihn mit zusammengekniffenen
Augen an. Sie sah noch zerzauster aus als gewöhnlich. Das stumpfe, braune Haar
lag unordentlich um ihren Kopf, der schwarze Blazer, den sie trug, hatte an den
Ärmeln tiefe Knitterfalten. Und auch ihre Jeans hatten anscheinend schon
bessere Tage gesehen. Sie waren verwaschen und auf den Oberschenkeln speckig.
Die Winzigkeit eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht. „Solltest nicht
so schreckhaft sein. Ist ungesund. N´ Abend, Doktor Bovolet.“ Sie nickte Anne
flüchtig zu.
„Wieso bist du hier?“, fragte sie dann geschäftsmäßig.
„Sie ist mir fast in den Wagen gelaufen. Ich dachte zuerst, sie hat
nur ein bisschen viel getrunken. Aber dann hab ich zurückgesetzt und bin zu ihr
hin.“
„Warum?“
Chris zuckte die Achseln. „Keine Ahnung! Ich hab´s einfach getan. Ich
sah dann, dass jemand sie verprügelt hat, hab sie in den Wagen gepackt und bin
hierher gefahren. Das ist alles!“
„Wann war das?“
„Glaubst du, ich stoppe die Zeit, wenn ich eine halbtote Frau ins Auto
schleppe?“
„Du warst genau um 23 Uhr 27 hier“, kam ihm Anne zu Hilfe.
Chris warf ihr einen dankbaren Blick zu und überlegte kurz. „Etwa
fünf, sechs Minuten vorher hab ich sie wohl gefunden“, sagte er dann.
„Wo?“, schnarrte Susanne.
„Hünefeldstraße. Ich … ich kann dir die Stelle zeigen.“
„Gut.“ Susanne nickte zufrieden.
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