Fehlschuss
Hans dort hineinzustecken?
Schwester Hilde tappte wieder herein mit einem großen Becher
brühheißen Tees, Aufnehmer und Eimer. Als Chris aufspringen und selbst die
Pütze beseitigen wollte, brummelte sie nur: „Ihr süßer kleiner Arsch bleibt, wo
er ist!“ und fing an zu wischen. Auch das gehörte zu Schwester Hilde: Eine
Wahrnehmung und Ausdrucksweise, die ihre Oberin wahrscheinlich zutiefst
entsetzt hätte. Oder auch nicht, überlegte Chris, während er versuchte, ein
Grinsen zu unterdrücken.
Die Pütze war schnell beseitigt, und die alte Frau nahm kommentarlos
die nassen Sachen von Chris mit hinaus. Vielleicht gab sie sie in die Wäscherei
der Klinik, und die steckten alles in den Trockner. Chris stellte sich vor, wie
ein sündhaft teurer Schurwollanzug wohl aussehen mochte, wenn er aus dem
Trockner kam. Auch egal — er hatte das Ding schon immer gehasst. Jeans und ein
alter Pullover, das war eigentlich alles, was er zum Anziehen brauchte. „Keine
angemessene Kleidung für einen Anwalt! Auch nicht in deiner Freizeit!“ Der
Spruch stammte natürlich ebenfalls von Anne.
Chris wärmte sich die Hände an dem heißen Teebecher und wartete.
Wartete, dass die eisigen Schauer, die immer noch durch seinen Körper jagten,
aufhörten. Wartete auf Anne. Wartete, dass seine Erschöpfung ein wenig
nachließ.
Draußen auf dem Gang lief jemand eilig vorbei, quietschende
Gummisohlen auf Steinboden. Die Chirurgie war immer noch auf der Suche nach
Doktor Sieger, wie eine verzerrte Lautsprecherstimme meldete.
Wer mochte die Frau so zugerichtet haben? Ihr Mann? Nein, hatte sie
nicht gesagt „Sie finden mich“? Also mehrere Personen. Aber wer? Und warum?
Chris spürte seine Kopfhaut kribbeln, als ob tausend Ameisen darauf
tanzten. Er wusste nur allzu gut, was dieses Kribbeln zu bedeuten hatte. Das
war weder Kälte noch Erschöpfung. Es war Wut, maßlose Wut, die ihn packte, wenn
Menschen andere Menschen halb totschlugen. Und es war die Gewissheit, dass er
das Ganze nicht in drei Tagen vergessen haben würde. Die Gewissheit, dass diese
Geschichte ihn noch mehr beschäftigen würde, als ihm lieb war.
Chris kannte den Gesichtsausdruck, mit dem Anne eine halbe Stunde
später das Zimmer betrat. Er kannte und fürchtete ihn. Acht Jahre lang hatte er
dieses müde, eingefallene, aschfahle Gesicht gefürchtet, diesen absolut leeren
Blick. Und er hatte Anne gefürchtet, die an solchen Tagen ihren Beruf, das
Krankenhaus, die ganze Welt verfluchte und in ihrer Aggressivität unberechenbar
war, aus dem Nichts heraus Streit anfing, Gläser an die Wand warf …
Fünf
Mit einem
erleichterten Seufzer stellte Karin Berndorf ihre Reisetasche mitten in der
Diele ab und ließ gleichzeitig eine überdimensionale Kameratasche von der
Schulter gleiten. Achtlos warf sie die knallroten Krücken daneben. Den
leuchtend blauen Gehstock hängte sie allerdings ordentlich an die Garderobe.
Sie war erschöpft und spürte jeden Knochen im Leib. Aber sie war auch
zufrieden. Hochzufrieden! Mit sich, der Welt und den Aufnahmen, die sie gemacht
hatte.
Drei Tage Plöner Seen. Nichts als blühende Rapsfelder, die im
Sonnenlicht so gelb strahlten, dass es in den Augen wehtat. Verschwiegene
kleine Seen, manchmal nicht größer als ein Teich, mit ganzen Schwärmen von
Wildenten, die aus dem Schilf aufstoben, wenn man ihnen zu nahe kam. Wasser,
das aussah wie flüssiges Blei, als sich ein Gewitter zusammenbraute. Ins
Abendlicht getauchte Landschaft, und du glaubst, mitten in einem Gemälde von
Caspar David Friedrich zu stehen.
Es war grandios gewesen, einfach grandios. Sie hatte fotografiert wie
verrückt, wollte sich keine einzige dieser so unterschiedlichen Stimmungen
entgehen lassen. Sie bedauerte zwar immer noch, dass sie ihre geliebte
Hasselblad nicht mehr hatte. Wieso musste dieses dämliche Flittchen auch
ausgerechnet die mitgehen lassen? Aber es waren gute Aufnahmen geworden, das
spürte sie. Das zufriedene Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, als sie sich
bückte, um die Schuhe aufzubinden. Ein dumpfer Schmerz zog hoch bis in die
linke Hüfte.
„Gottverfluchte Rübenscheiße“, brummte sie. „Okay, altes Mädchen, hast
gewonnen.“ Sie nahm die Krücken mit ins Schlafzimmer und riss das Fenster weit
auf. Es war stickig in dem kleinen Raum, der kaum Platz genug bot für ein Bett
und einen schmalen Kleiderschrank. Einen Augenblick blieb sie stehen und atmete
die klare Luft ein. Es roch nach nassem Asphalt und feuchter Erde. Aber der
Regen
Weitere Kostenlose Bücher