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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Geller
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war es so dunkel, dass sie kaum noch etwas
sehen konnte. Sie bekam ein bisschen Angst, und war jetzt ganz froh, dass Onkel
Rudolf ihre Hand hielt. Sie stiegen einen steilen Abhang hinunter. Unter ihren
Schuhen raschelten die Blätter. Wenn es nicht so dunkel wäre, würde sie mit den
Füßen durch das Blättermeer pflügen und einen Heidenlärm damit veranstalten.
Das machte Spaß. Aber dann hätte sie sicher die Kaninchen vertrieben, die ganz
unten waren, wie Onkel Rudolf sagte.
    Plötzlich ließ er ihre Hand los. Sie bekam einen Schubs, fiel und
kullerte durch das Laub nach unten. Sie wollte sich aufrappeln, aber da war
Onkel Rudolf schon über ihr. Er keuchte ganz komisch, und sein Gesicht sah gar
nicht mehr lieb aus. Es war verzerrt wie die Fratze, die sie im Sommer auf der
Geisterbahn gesehen hatte. Mit einem Ruck riss er ihren Anorak auf. Was machte
er denn da? Es war doch viel zu kalt, um ohne Anorak draußen zu sein. Wenn das
ein Spiel sein sollte, gefiel es ihr nicht.
    Sie wollte sich losmachen, ihn wegschieben, aber natürlich war er
stärker als sie. Jetzt zerriss er ihr blaues Kleidchen und die Strumpfhosen.
Die waren ganz neu. Da würde Mama aber wütend werden.
    Mit einem Mal musste sie ganz schlimm Pipi. Und Angst hatte sie auch.
Schreckliche Angst! Weil das Kleid kaputt war, weil Onkel Rudolf das getan
hatte. Der war ja gar nicht nett! Das war einer von den Männern, von denen Papa
so oft sprach! Erschrocken begann sie zu weinen. Was sollte sie tun? Wehren!
Sie musste sich wehren! Papa hatte gesagt, dass sie spucken, kratzen, treten,
beißen sollte. Einfach alles tun, was sonst verboten war. Sie schlug um sich,
trat nach Onkel Rudolf, grub ihre kleinen Fingernägel in seine Wangen. Aber er
riss einfach ihre Ärmchen herunter und drückte sie auf den feuchten Boden.
    Oma hatte Recht mit dem Satan. Er war über ihr, heiß und stinkend.
Jetzt drückte etwas auf ihre Oberschenkel. Sie schrie. Es tat so weh! Da klebte
plötzlich etwas auf ihrem Mund. Überall tat es auf einmal weh. Viel mehr als
der gebrochene Arm letztes Jahr.
    Noch einmal bäumte sie sich auf, wollte ihn an den Haaren reißen, ihn
wieder kratzen. Und sie versprach dem lieben Gott und Oma, dass sie nie, nie
wieder ungehorsam sein würde. Und ein Kaninchen wollte sie auch nicht mehr. Nur
aufhören sollte es, endlich aufhören …
    Das war das letzte, was Claudia dachte.
    Es war der 2. November.
    Sie war sechs Jahre, acht Monate und zweiundzwanzig Tage alt.

 
    Freitag, 2. November
     
    Ein Bereitschaftswochenende voller gepflegter Langeweile lag vor
Susanne Braun. Wenn keiner auf die Idee kam, einem anderen die Kehle
durchzuschneiden und damit im Dezernat für Todesermittlungen Hektik auslöste,
würden sie und „ihr“ Oberkommissar, Heinz Hellwein, alte Akten aufarbeiten, in
der Nase bohren und sich gegenseitig angähnen.
    Bei Bereitschaftsdiensten bestand nicht unbedingt Anwesenheitspflicht
im Präsidium, sie mussten nur schnell und immer erreichbar bleiben. Aber es war
den beiden zu einer lieb-verhassten Gewohnheit geworden, einen Teil dieses
Zweiundsiebzigstundendienstes zu nutzen, um Liegengebliebenes auf den aktuellen
Stand zu bringen. Dagegen sprachen auch keinerlei familiären Verpflichtungen.
Hellwein war Single aus Überzeugung, und Susanne lebte allein, seit ihr Mann,
ebenfalls Polizist, vor ein paar Jahren im Dienst erschossen worden war.
    Sie hoffte, dass sie noch eine ganze Weile mit ruhigen Routinearbeiten
befasst sein würden. Bis vor ein paar Wochen war es nämlich monatelang hektisch
gewesen. Im März ein Raubmord in Godorf, und dann diese verworrene Geschichte
im Mai, bei der zwei Prostituierte ermordet worden waren, und beinahe auch ihr
alter Freund Christian Sprenger. Jetzt noch überlief es sie kalt, wenn sie
daran dachte. Chris hatte schon mehr als ein Mal zur Lösung eines Falles
beigetragen, aber manchmal steckte er seine Spürnase auch zu tief irgendwo
hinein. Wie im Mai. Da hätte es ihn fast ins Grab gebracht, weil er dem Täter
zu nahe gekommen war. Und wenn letzten Endes sein kluger Kopf nicht doch noch
geschaltet hätte, würde auch Karin Berndorf nicht mehr leben.
    Schnell wischte Susanne den Gedanken beiseite und versuchte, sich auf
den Fall einer Achtzigjährigen zu konzentrieren, die im Juni erschlagen aufgefunden
worden war. Auch diese Ermittlungen waren so gut wie abgeschlossen, nun mussten
jedoch die Beweise und Indizien für die Staatsanwaltschaft dokumentiert werden.
Die Beweisanforderungen, die

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