Feindberührung - Kriminalroman
des früheren Schillingtors und endete am Garnisonsplatz. Nur knapp fünfzig Meter nach der heutigen Tramstation » Schillingtor« lag dann rechter Hand, Richtung City blickend, die Theodor-Körner-Kaserne, auf eben dem Areal, das zu Zeiten des glücklosen Landgrafen Friedrich jene beiden Regimenter beherbergt hatte, die der großen Straße den Namen gaben. Heute lagen dort der Stab und ein Bataillon einer Luftlandebrigade, in der die meisten Wehrdienstleistenden des Landkreises traditionell ihre Militärzeit zubrachten. Auch Grewe war Fallschirmjäger gewesen, was heute, gut zwanzig Jahre später, keiner mehr glauben wollte, deshalb redete er auch nicht darüber.
Das Gymnasium Friderizianum lag ebenfalls an der Regimentsstraße, es war nach einem Ururenkel des Friedrich benannt, der aus dem Niedergang des Vorfahren gelernt hatte und zeitlebens nur friedvollen Beschäftigungen nachging, wie beispielsweise Schulgründungen. Grewe parkte den roten Thereseflitzer auf dem Lehrerparkplatz, legte ein Schild mit dem Aufdruck » Polizei« gut sichtbar aufs Armaturenbrett – was natürlich keinerlei strafbefreiende Wirkung hatte, aber manchmal bewog es die Damen und Herren des Ordnungsamtes oder die eigentlich Parkberechtigten, von weiteren Schritten abzusehen.
Im Schulgebäude war es noch recht still, Grewe hörte undeutlich Lehrer hinter geschlossenen Türen reden. Er war plötzlich unsicher, ob die Pause nicht vielleicht gerade vorbei war, er hatte die Zeiten nicht so präzise im Kopf wie Stina. Grewe stieg die Treppe in den dritten Stock hoch, schritt zielstrebig auf die Tür des zweiten Klassenraums linker Hand zu und blieb daneben stehen. Genau in dem Augenblick schrillte die Pausenklingel, und Grewe spürte Erleichterung und Zufriedenheit. Und im gleichen Moment riss ein Schüler die Tür von innen auf, und Grewe guckte auf den Kragen einer Snowboardjacke, wie Robert sie sich sehnlich wünschte; er hatte sie Grewe vor einigen Tagen in einem Schaufenster gezeigt. Um das Gesicht zu sehen, musste Grewe aufschauen. Dieser Einsneunzig-Schlaks konnte doch kein Klassenkamerad der Zwillinge sein. Der hatte ja sogar schon einen spärlichen Kinnbart.
» Scheiße!«, entfuhr es Grewe.
Er stand natürlich vor dem falschen Raum, und jetzt strömten die gut achthundert Schüler des Friderizianums unter lautem Gejohle und Gequatsche auf allen Fluren in die große Pause. Er würde Klara niemals finden. Aber als er sie neulich wegen Übelkeit abgeholt hatte, war das doch hier gewesen? Grewe schob sich dem Schülerstrom entgegen, um einen Blick in den Raum zu werfen. Eindeutig ein Labor. Chemie oder Bio oder sonst was, wovon Grewe noch nie Ahnung gehabt hatte.
» Herr Grewe, kann ich Ihnen helfen?«
Grewe zuckte leicht zusammen, dann erkannte er denselben Lehrer, der am bewussten Tag auch Klara hier unterrichtet hatte.
» Äh, Klara.«
» Ja?« Der Mann im weißen Kittel schaute Grewe freundlich an.
» Ich will Klara etwas geben, also …«
Warum litt er immer wieder unter dieser eigenartigen Kommunikationsverstopfung? Er wusste, dass das seine Familie und die Kollegen wahnsinnig machte. Dabei war Grewe kein Schweiger im üblichen Sinn. Er konnte eloquent sein und, wenn er sehr entspannt war, sogar unterhaltsam.
» Ich dachte, Klaras Klassenzimmer ist hier, weil ich sie ja letztens bei Ihnen abgeholt habe, aber hier ist Chemie oder Biologie sehe ich, und deswegen war Klara hier, oder?« Wow, ganze Sätze, wenn auch keine zielführenden.
» Das ist richtig, Herr Grewe.« Der Lehrer schaute Grewe freundlich an.
» Jetzt finde ich sie nicht mehr … bei dem Auftrieb in der Pause.« Er blies Luft aus den Backen.
» Klara ist beim Sport.«
Grewe stutzte.
» Ich weiß das, weil die Klasse nach der Pause bei mir Unterricht hat, die Kinder dürfen fünf Minuten später kommen. Ein Teil der Pause geht ja immer fürs Umziehen drauf.«
Grewe schaute den Mann verständnislos an.
» Treppe ganz runter, nicht da, wo Sie wahrscheinlich hergekommen sind«, er zeigte auf die Seite des Ganges, aus der Grewe tatsächlich gekommen war, » sondern die andere Seite. Wenn Sie unten rauskommen, sehen Sie schon die Sporthalle. Grüßen Sie Klara.« Der schlanke Mann mit der runden Nickelbrille und dem gepflegten Schnurrbart lächelte Grewe fein an.
» Herr Bröcking, richtig?«
» Richtig. Gehen Sie schnell, sonst verpassen sie Klara doch noch.«
» Ja.«
Grewe drehte sich auf dem Absatz um und trabte in Richtung Treppe, als er plötzlich
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